Ich

„Ist da noch ein Fleck?“. Fotos: Andreas Meichsner

von Tina Veihelmann

Heute ist der Tag, an dem wir nicht abgeflogen sind. Das Fenster steht offen. Der Morgen weht herein. Karl, der Mann, mit dem ich lebe, liegt neben mir, er schnarcht leise, und es duftet nach Aufbackcroissants aus einer Küche im Nachbarhaus. Ich ziehe die Decke an die Nase, und es riecht süßlich karamellig nach Schlaf und nach Träumen und nach allmorgendlichem Aufwachen neben Karl.

Wenn nicht alles anders gekommen wäre, würde ich jetzt stattdessen Reiseluft riechen. Flugzeugluft. Wir könnten schon gelandet sein. Wir könnten den Bus bestiegen haben, durch Tiflis geschaukelt und später den Kaukasus raufgegondelt sein. In halsbrecherischen Serpentinen hätten wir uns Kurve um Kurve nach oben geschraubt, und die Aussicht aus dem Busfenster gäbe den Blick auf Wracks abgestürzter Fahrzeuge frei. „Kraaass“, würde Karl kommentieren, aber er würde ihn auch genießen, den Blick in den Abgrund, das würde man merken. Ein Lada ist ausgebrannt, er sieht aus wie ein totes Insekt, dessen schwarze gekrümmte Beine in den Himmel aufragen.

„Wir haben den Urlaub sausen lassen. Nicht, dass etwas Dramatisches unseren Abflug verhindert hätte. Wir haben es schlicht nicht geschafft“

Karl schnarchelt und dreht sich, und auch ich drehe mich, weg von Karl, weil ich gerade in dem Dorf angekommen bin, in dem wir aussteigen. Unsere Vorhänge blähen sich. Es sind diese weißen von Ikea mit den eingestanzten Ringen, durch die man die Vorhangstangen so praktisch hindurch stecken kann. An den Kanten sind sie leicht staubig. Aber das ist nichts gegen den Staub, den der anfahrende Bus aufwirbelt, als er davon fährt und uns am Straßenrand zurücklässt.

Es gibt ein paar geduckte Häuser, aus Natursteinen gebaut und eine Straße, die sich weiter den Berg hinaufwindet. Auf der gehen wir jetzt. Es riecht nach Abgasen, aber nur für einen Augenblick, dann riecht es nach Gebirge, nach so klarer und sauberer Luft, dass es einen schwindlig macht.

Ich schließe die Augen und versuche mich in einen Halbschlaf zu versetzen. Gerade tief genug, dass man träumen kann, aber flach genug, dass man den Traum lenken kann. Ich bin Meisterin darin. Wenn ich mal einen Grabstein kriegen sollte, wird darauf stehen: Sie war Deutsche Meisterin im Wachträumen. Das ist doch auch ein Erfolg.

„Wenn ich mal einen Grabstein kriegen sollte, wird darauf stehen: Sie war Deutsche Meisterin im Wachträumen. Das ist doch auch ein Erfolg“

Im Moment laufe ich jedenfalls auf dieser Bergstraße, und es schwindelt mich. Es ist so, als könnte man über Kilometer hinweg jedes Bergkräutlein riechen. Aber das wäre nur eine Note – eine winzige Note – im gewaltigen mineralischen Duft lebloser Steinlandschaften. Karl denkt dasselbe wie ich. Wenn ich uns beide lenken kann, denken wir fast immer gleich, und er sagt: „Wenn wir jetzt weiterlaufen, dann kommen wir da hin, wo gar nichts mehr ist. Und dann hören wir einfach auf, zu existieren, und dieser wundervolle, saubere Wind trägt uns davon.“

Aber es kommt anders. Ich drehe mich. Ändere die Richtung, weil es mir jetzt zu pathetisch wird. Ich sage: „Karl, ich glaube, dass wir schon früher sterben. Weil, weißt du, wir haben nichts eingekauft, in Tiflis hatten wir keine Zeit und in diesem Dorf war kein Laden. Das einzige, was ich noch habe, ist das Pappbrötchen aus dem Flugzeug.“ Karl nickt, und wie Hänsel und Gretel traben wir weiter, denn was bleibt uns anderes übrig? Und auch das endet wunderbar, denn wir wandern hungrig weiter, irgendwann verirren wir uns, dann streiten wir, und viel später, genau im richtigen Moment eigentlich, erreichen wir eine Alm, wo es Schafskäse gibt, der nur deshalb so köstlich schmeckt, weil wir hier oben sind. Außerdem versöhnen wir uns. In verschiedenen Variationen nimmt Karl meine Hand, mal mit und mal ohne Kuss, und fast sage ich: „Stör mich nicht!“, als Karl das Schnarchen einstellt, sich mir zudreht und meine Hüfte umfängt.

„Wo hab ich bloß die Gartenschere …„

Es ist der Tag, an dem wir nicht abgeflogen sind. Wir haben den Urlaub sausen lassen. Nicht, dass etwas Dramatisches unseren Abflug verhindert hätte. Wir haben es schlicht nicht geschafft, frei zu machen – und deshalb arbeiten wir im August, nur weniger als sonst.

Gleich ist es acht, und ich werde aufstehen und einkaufen gehen. Karl hat seine Hand zwischen meine Hüfte und das Laken geschoben. Er atmet schon wieder gleichmäßig. Ich frage mich, wo Karl jetzt gerade ist. Vielleicht auch im Kaukasus. Oder in Timbuktu. Oder im All. Egal, wo er gerade ist, möchte ich auf gar keinen Fall riskieren, dass er just dann, wenn ich mich aus seiner Umklammerung löse, von seiner Marsfrau verlassen wird.

„Dreißig Mal muss ich schaffen!“

Deshalb bewege ich mich nicht, solange bis Karl aufwacht. Ich strecke mich vorsichtig und halte die Zehen in die Luft. Es ist super, dass wir nicht im Flugzeug sitzen. Wenn wir geflogen wären, hätten wir die Alm-Szene nicht erlebt. Und wenn – sie wäre nie so schön gewesen.

Wenn Karl aufwacht, werde ich einkaufen gehen und ihm Schafskäse mitbringen. Zwar gibt es hier keine Almen, sondern nur Lebensmittelgeschäfte zu ebener Erde, aber das heißt nicht, dass die Sache langweilig wäre.

Die Arbeit: „Arkadia“ heißt die Serie, die der Fotograf Andreas Meichsner 2005 in einer niederländischen Ferienhaussiedlung geschaffen hat: Bilder von Vorgärten, Swimmingpools, Sonnenschirmen, Hunden, Anglern, Golfspielern und Häusern, die alle gleich aussehen. Viele Aufnahmen wirken, als wäre das eigene Zuhause in ein fremdes Land gepflanzt worden, damit man dort leben kann wie sonst am Sonntag auch: Morgens wird auf Plastikstühlen gefrühstückt und danach das Auto geputzt. „Arkadien“, so heißt ein Berg- und Hochland der griechischen Halbinsel Peloponnes. In der griechischen Mythologie wurde der Ort des „goldenen Zeitalters“ voll glücklicher Hirten und landschaftlichem Idyll verklärt.

Der Fotograf: Andreas Meichsner, 41, hat in Hannover und Japan Architektur und Fotografie studiert. Er beschäftigt sich mit jenem ewigen Konflikt des Menschen: der Sehnsucht nach Freiheit und dem Wunsch nach Beständigkeit.

Beim Einkaufen, an der Falckensteinstraße Ecke Wrangelstraße, rette ich ein Mädchen aus einer Schießerei, die aus nicht geklärten Umständen immer an dieser Kreuzung stattfindet. In diversen Serien habe ich mir sehr genau angeschaut, wie man einem körperlich überlegenen Mann eine Waffe abnimmt, wie man den Schlitten zurückzieht und sie mit beiden Händen in die richtige Richtung hält. Manchmal arbeite ich auch ohne Waffe.

Beim Lebensmittelhändler packe ich den Schafskäse ein. Wenn ich zu Hause ankomme, bin ich entspannt. Wenn wir aufgebrochen wären, hätte ich heute das Mädchen nicht retten können. Im Urlaub – im echten Urlaub meine ich – hat man nie Zeit dazu.