„Sie dürfen genauso wenig umfallen wie wir!“

VOM BASTELSPASS ZUM BASTELERNST Ein Gespräch mit Herbert Rickert (56), dem Beschützer der Kastanien und Kastanienmännchen

taz: Herr Rickert, Sie haben in Ihrer Eigenschaft als Präsident des Bundesverbands der Kastanienmännchenhersteller in diesem Herbst einen dramatischen Appell an die deutschen Kindergärtnerinnen gerichtet. Könnten Sie kurz zusammenfassen, worum es Ihnen geht?

Herbert Rickert: Aber gern. Es geht mir um nicht weniger als die Bewahrung der Grundlagen der abendländischen Kultur, und dazu gehören für mich Tugenden wie Fleiß, Zielstrebigkeit, Durchhaltevermögen und Leidensbereitschaft ebenso wie eiserne Geduld und eine gewisse Fingerfertigkeit beim Herstellen schöner Kastanienmännchen …

Für Sie ist das also schon mehr als ein Hobby?

Diese Frage möchte ich überhört haben. Ich sage immer: Zeigt mir eure Kastanienmännchen, und ich sage euch, wer ihr seid.

Und wer sind wir?

Ein Volk, das keine anständigen Kastanienmännchen mehr herstellen kann. Und ein solches Volk schaufelt sich sein eigenes Grab. Sehen Sie, in meiner Kinderzeit ist es noch üblich gewesen, mit dem Holzbohrer maximal drei Löcher in die Kastanie zu bohren, die als Rumpf eines Kastanienmännchens dienen sollte, und in diese Löcher Streichhölzer hineinzustecken. Wenn das Männchen nicht auf diesen Beinchen stehenblieb, sondern umfiel, musste nachgebessert werden: Dann bohrte man das eine oder andere Loch ein bisschen tiefer, und irgendwann hatte man es geschafft.

Und was hat das mit der abendländischen Kultur zu tun?

Sehr viel! Denn unsereiner ist beim Basteln von Kastanienmännchen noch darauf gedrillt worden, sich zu konzentrieren und notfalls eine ganze Woche lang in einer einzigen Kastanie herumzubohren, bis sich am Ende der gewünschte Erfolg in der Gestalt eines stabil auf seinen Streichholzbeinchen stehenden Kastanienmännchens eingestellt hat. Da sind oft Tränen geflossen, und es hat auch manchmal Ohrfeigen gehagelt, was ich jetzt gar nicht schönreden möchte, aber wir haben doch gelernt, uns zusammenzureißen und auch einmal eine entbehrungsreiche Arbeitsphase durchzustehen, statt uns in die bequeme Scheinwirklichkeit einer mühelos errungenen Befriedigung hineinzuträumen.

Geschadet hat Ihnen das nicht?

Keineswegs. Im Gegenteil. Auf einem gesunden Leistungswillen beruht ja eben die gesamte abendländische Kultur.

Und die gerät jetzt ins Wanken?

Wenn Sie mir das nicht glauben, kann ich es Ihnen an einem Beispiel verdeutlichen. Mein Söhne Baldur und Notger haben in ihrem Kindergarten letzte Woche Kastanienmännchen gebastelt, die umgekippt wären, wenn es nicht von seiten der Erzieherinnen die Erlaubnis gegeben hätte, alle Fehler der Statik durch eine unter die Füße der Kastanienmännchen gepappte Knetmasse zu kaschieren. Und nun frage ich Sie: Wo kommen wir hin, wenn unsere Kinder nicht mehr lernen, dass ihre Kastanienmännchen auf eigenen Beinen stehen können müssen? Die Antwort kann ich Ihnen gleich mit auf den Weg geben: Dann geht alles den Bach hinunter. Dann gibt es kein Halten mehr. Dann brechen alle Dämme, und dann wird mehr als nur das eine oder andere Kastanienmännchen umfallen. Ich erlebe das jetzt schon ganz konkret in Saarbrücken, wo mir Schulkinder einen Vogel zeigen, wenn ich sie dazu ermahne, nicht einfach achtlos an den Kastanien vorüberzugehen, die auf dem Bürgersteig liegen. Oder als ich dem Arbeiter-Samariter-Bund eine Ausstellung meiner Kastanienmännchensammlung angeboten habe. Da ist mir die kalte Schulter gezeigt worden! Und zwar von Leuten, denen ich an der Nasenspitze angesehen habe, dass ihnen Werte wie Bastelspaß und Bastelernst viel weniger bedeuten als ein lässiges Sich-Ausleben im Stil der modernen Fernbedienungsgesellschaft. Daher mein eindringlicher Appell: Weg mit der Knete! Fort damit! Für immer! Lasst die Kinder heulen, lasst sie von mir aus wimmern und schluchzen, aber gebt ihnen die Chance, Kastanienmännchen zu basteln, die auf eigenen Füßen stehen und ihren Namen verdient haben!

Glauben Sie denn, dass man Ihnen Gehör schenken wird?

Das hoffe ich doch sehr. Und sonst werde ich Trost in der Beschäftigung mit meiner Kastanienmännchensammlung finden. Darf ich Sie Ihnen mal zeigen? Nach der Trennung von meiner zweiten Frau, als ich an einer Schilddrüsensache erkrankt bin, also in einer extrem schwierigen Lebensphase, habe ich sogar die Laokoon-Gruppe, die Akropolis und den Eiffelturm aus Kastanien nachgebaut …

Lieber nicht, Herr Rickert, lieber nicht. Wir danken Ihnen für das Gespräch. Und gute Besserung!

INTERVIEW: GERHARD HENSCHEL