Der Boden unter den Füßen

Revolutionen im Kleinen: An Berliner Grundschulen ist Tanz neuerdings auch Unterrichtsfach. Angeschoben hat das Projekt die Choreografin Livia Patrizi, die im richtigen Augenblick die richtigen Partner zusammenbrachte. Und plötzlich bewegt sich was

Den Kindern fehlt der Kontakt zum Körper, das merkt man schon beim Sitzen

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Weißt du, wo du hinwillst? Die Frage ist einfach und hat es doch in sich. Meistens weiß man, wo man hinmuss, aber was, wenn plötzlich alle Zielvorgaben wegfallen? Woran orientieren Körper und Sinne sich dann? Für die Kinder einer Grundschule in Tegel wird daraus eine Aufgabe in ihrem Tanzunterricht am Dienstagmorgen.

Ein Teil flitzt durch den Raum und will sich erst mal auspowern, andere trudeln wie Schneeflocken umeinander; bald ballen sich die fünfundzwanzig Schüler der zweiten Klasse in einer Ecke der Gymnastikhalle, dann zieht sich ihr Feld auseinander. Später geben Katelijne Philips-Lebon und Jean-Marc Lebon, die als Tänzer an die Reinickendorfer Franz-Marc-Schule gekommen sind, ihnen vor, dass sie nach 15 Schlägen auf der Bongo zurückgefunden haben müssen zu ihrem Partner, der derweil an Ort und Stelle versucht, was er mit sich und dem Wirbeln um die eigene Achse anfangen kann. Und das klappt, ohne große Karambolagen.

Seit Beginn des Schuljahres Mitte August läuft das Pilotprojekt TanzZeit für 37 Klassen in Berlin. Anfangs, erzählt die Klassenlehrerin Frau Christ, waren die Mädchen begeistert und die Jungen eher skeptisch über die Aussicht, Tanz als Schulfach zu bekommen. Die erste Überraschung für die Mädchen war, nicht die Formen vorgeführt zu bekommen und die Posen zu lernen, die sie sich unter Tanz vorstellten; die Jungen dagegen verließ ihr Misstrauen, als sich rausstellte, dass sie ihre Energie erst mal ungebremst einbringen können. Denn Tanz hat hier wenig mit Nachahmung zu tun, viel aber mit Laufenlassen und Wahrnehmen, wo es denn hingeht.

Die Initiatorin des Projekts ist Livia Patrizi, Choreografin, Tänzerin und Mutter zweier Söhne. Sie sei, erzählt sie, in den 70er Jahren in Neapel mit Erwachsenen aufgewachsen, die träumten, man könnte die Welt verändern. Als diese Utopien zusammenbrachen, nahm sie für sich selbst das Vorhaben mit, wenigstens an Revolutionen im Kleinen und im Nahbereich zu arbeiten.

Eine Revolution im Kleinen ist TanzZeit ganz sicher. Denk ich an meine Schulzeit zurück und den Ballettunterricht außerhalb, dann beneide ich die Kinder jetzt um die Selbstverständlichkeit, mit der alle teilnehmen – ohne in den Verdacht zu geraten, alberne Dinge in rosa Tütüs zu tun.

Am letzten Wochenende zeigte Livia Patrizi wieder ihr Stück „Was ist Tanz?“ in der Tanzfabrik. Das Stück ist das Aushängeschild ihres Projekts: Ein Abenteurer auf der Suche nach dem choreografischen Schatz lernt, was neugierige Nasen, wetteifernde Ellbogen und schüchterne Füße mitteilen können, und kommt so dem Flüchtigen auf die Spur.

Sitzt man Livia Patrizi gegenüber, ist man einen Moment lang versucht zu glauben, dass ihr der neapolitanische Charme den Weg an Berlins Schulen gebahnt hat. Aber es war sehr viel mehr ihre Wachheit, im richtigen Moment die richtigen Partner zusammenzubringen. Einzelne Initiativen bestanden schon am Dock 11, an der Tanztangente und der Etage; aber ihr ist es gelungen, das zu bündeln und die Unterstützung aus den Senatsverwaltungen für Kultur und für Bildung, Jugend und Sport zu gewinnen. Wichtig war ein Brief des Senats in der offiziellen Schulpost, der das Projekt TanzZeit empfahl. Siebzig Schulen bewarben sich um die Teilnahme, die Finanzierung dafür müssen sie selbst aufbringen; 1.400 Euro für 6 Monate. 25 nehmen jetzt teil, mehr war für die Initiatoren erst mal nicht zu stemmen.

Für den günstigen Moment sorgte aber auch der gestiegene Druck auf die Schulen, sich durch spezielle Programme zu profilieren. TanzZeit lieferte ihnen praktisch auf dem Tablett einen jener Bausteine, um die sie sich jetzt kümmern müssen. So ist die Franz-Marc-Schule eine offene Ganztagsschule, und Angebote von außen gehören für Elisabeth Teige, die Direktorin, schon länger zum Konzept. Dass vielen Kindern die Bewegung fehlt und der Kontakt zum eigenen Körper, sagt sie, sieht man bereits an ihren Schwierigkeiten beim Sitzen. Wie ein Schluck Wasser hängen sie da.

Tatsächlich sind das Sitzen und das Aufrichten der Wirbelsäule Teil der TanzZeit mit Jean-Marc und Katelijne, aber in spielerischer Form. Wie ein Zauberer beschwören die Kinder ihre Zehen, von ihnen wegzuwollen und zu ihnen hin, und damit kommt ein Zug in ihren ganzen Körper. Sich selbst wahrzunehmen, auf die Gruppe zu achten, das schärft Konzentrationsfähigkeiten und kommt nicht nur der Beweglichkeit, sondern dem ganzen Lernen und Sozialverhalten zugute. Theoretisch ist das Wissen von der positiven Wirkung solcher Ansätze schon lange vorhanden – das ändert aber nichts daran, dass Personalmangel und Mittelkürzungen dann solche Projekte nur sehr selten zustande kommen lassen.

Aber es geht in der TanzZeit nicht nur um motorische und rhythmische Fähigkeiten – es geht auch um Kunst. Kulturelle Kompetenzen fördern, heißt das heute: die Anerkennung einer Kunstform vorantreiben, die immer noch in der Hauptsache als schönes Dekorum wahrgenommen wird und nicht als wichtige Form körperlicher Erkenntnis. So kommen jetzt die Choreografen und Tänzer auch an die Schulen, um die Kinder nicht zuletzt von der Praxis her mit den Bedingungen von Kunst in Berührung zu bringen. Zu den Lehrenden gehören Sasha Waltz oder Dan Pelleg und Marko Weigert von Wee Wee Dance.

Wie es nach der Pilotphase weitergeht mit dieser neuen Schnittstelle zwischen Schule und Kulturbetrieb, ist noch nicht abzusehen. Eltern und Fördervereine alleine werden das nicht tragen; langfristig ist die Hoffnung, dass die Senatsverwaltungen für Kultur und Bildung einen neuen Etat dafür einrichten. Das geht nur mit viel politischem Willen und den versucht Livia Patrizi jetzt zu mobilisieren.

Infos unter www.ztberlin.de