„Wer sich frei machen kann, geht baden“

Ausgeliefert Wer ins Schwimmbad geht, der lässt die Hülle fallen. Das gefällt nur jenen Menschen, die sich gern präsentieren oder denen es schlicht egal ist, sagt Sozialpsychologin Gisela Steins

Gisela Steins

Foto: privat

52, ist Professorin für Sozialpsychologie an der Uni Duisburg-Essen und forscht zur Sozialpsychologie des Körpers und wie wir ihn erleben.

Interview Kristof Botka

taz: Frau Steins, trifft man beim Schwimmbad-Besuch auf ein besonders soziales Gefüge?

Gisela Steins: Was sich auf den ersten Blick verändert, ist die Darstellung des Körpers. Der kann jetzt nicht mehr verhüllt oder durch Kleidung perfekt gestaltet werden. Kleider repräsentieren ja ein bestimmtes soziales Symbol. Wenn Sie wissen, in Kontext A lacht man über Ihren Bauch, dann ziehen Sie sich anders an als in Kontext B. Im Schwimmbad haben Sie nur noch sehr begrenzte Symbole zur Verfügung. Die Schutzstrategie entfällt. Personen, die sich symbolisch mit Kleidung repräsentiert, können das nicht mehr im Schwimmbad.

Verhalten sich die Menschen deshalb auch ganz anders?

Das hängt stark von den Standards der Gruppe ab. Gerade Heranwachsende, bis Ende 20, vergleichen sich noch sehr stark. Sie schauen nach den Hierarchien in der Gruppe und fragen sich oft noch, wer sie überhaupt sind. In unserer Gesellschaft gibt es sehr strenge Vorstellungen davon, was ein schöner Körper ist. Deswegen wird es, gerade in einer Gruppe, in der dieser Standard nicht kritisch reflektiert wird, ganz andere Emotionen geben, wenn man den Körper enthüllen muss.

Wasser ist ein Element, in dem Sie sich theoretisch, egal welchen Körper Sie haben, super bewegen und richtig gut fühlen können

Gisela Steins, Sozialpsychologin

Wie wirkt sich das aus?

Durch Beschämtheit, wenn man glaubt, diesem Standard nicht zu genügen. Aber auch durch gesteigertes Selbstbewusstsein, wenn man diesen Standards sehr wohl genügt.

Ist das Schwimmbad auch der Ort, wo Selbstbewusstsein schneller in Aggression umschlägt?

Ich glaube das betrifft einzelne Schwimmbäder mit einem bestimmten Publikum. Das Schwimmbad kann natürlich schon eine Art Bühne sein, wie andere öffentliche Räume aber auch. Schlägereien oder andere Ausfälle finden Sie im Sommer auch anderswo. Im Schwimmbad stellen eben gerade junge Männer ihre muskulösen Körper zur Schau. Für Frauen dagegen ist das Bad eher keine beliebte Bühne.

Inwiefern?

Zum Thema: Schwimmbad und Schamgefühl

Manch einer hat aus Sorge, von seinen Mitmenschen missgünstig betrachtet zu werden, noch nie in seinem Leben ein öffentliches Schwimmbad betreten. Ist die Scham so groß, auch nur teilentblößt den Blicken Fremder ausgeliefert zu sein, wird der Gang in die Badeanstalt meist gemieden. Andere begegnen dem wertenden Blick dagegen mit Aggression: um das eigene Ich, seine Integrität und das Selbstbewusstsein zu schützen.

In der Gesellschaft existieren viel strengere Vorstellungen davon, was eine schöne Frau ist. Diese Standards zu erfüllen, ist für sie ungleich schwerer. Wenn Frauen sich körperlich öffentlich präsentieren, kann das zudem sehr missverständlich interpretiert werden, im Sinne einer Anmache. Hier existiert in der Gesellschaft sicher noch ein Doppelstandard.

Wer seine Identität stark über den eigenen Körper definiert, verhält sich also entsprechend?

Ja, aber das ist kein Spezifikum des Körpers. Wenn Menschen aufgrund eines bestimmten Merkmals übermäßig stolz auf sich sind, dann besteht immer die Gefahr, dass sie sich in ihrer Werte-Hierarchie nach oben katapultieren und andere aus ihrer Sicht unterlegen sind. Wenn man das ohne Konsequenzen zeigen kann, dann endet das schnell in abwertendem Verhalten. Es macht einen Unterschied, ob ich nur weiß, dass ich viele Muskeln habe, oder auch denke, deswegen ein toller Hecht zu sein.

Und wenn ich eben kein toller Hecht bin?

Sigmund Freud untersuchte das Schamgefühl in typischen Nacktträumen. „Die Leute, vor denen man sich schämt, sind fast immer Fremde mit unbestimmt gelassenen Gesichtern“, schreibt er 1899 in der „Traumdeutung“. Freud interessierte sich besonders für den Widerspruch zwischen dem Desinteresse des Publikums und der Scham der unfreiwillig entblößten Person. Und er deutet diese Scham als einen „der Verdrängung geopferten Wunsch“.

Die Kehrseite zeigt das gegenteilige Gefühl. In dem Moment, wo ich meinen Körper nicht mehr zur Schau stellen kann, weil ich diese Merkmale nicht oder nicht mehr vorweisen kann, fühle ich mich miserabel. Der schöne Körper ist eines der wichtigsten Identitätsmerkmale. Das ist, ganz unabhängig vom Schwimmbadkontext, eine generelle Gefahr in unserer Gesellschaft. In ihr sehen sich heute viele junge Menschen gefangen. Auch das führt normalerweise zu antisozialem Verhalten.

Und dazu, dass viele das Freibad meiden?

Ja, auf jeden Fall. Im Schwimmbad tritt das noch mal verschärft zu Tage. Sie geben eben relativ viel ab, in der Umkleidekabine. Und man ist nicht immer im Wasser, sondern auch auf dem Weg dorthin oder auf der Liegewiese. Der durchschnittliche übergewichtige Mensch wird wissen, dass er einem bestimmten Standard nicht genügt. Nur wenn man sich davon frei machen kann, geht man trotzdem schwimmen. Umso toller finde ich es deshalb, wenn Menschen zu ihrem Körper stehen und, egal wie sie aussehen, ins Freibad gehen. Eigentlich hat das Freibad das Potenzial zu einer gesellschaftlichen Bühne, auf der jeder frei ist und zu sich stehen kann. Nur genutzt wird dieses Potenzial meist nicht.

Die Medienpsychologin Gitta Mühlen-Achs unterscheidet Machtausübung durch Männliche und weibliche Blicke. „Sobald sich eine Frau in die Öffentlichkeit begibt, gerät sie in einen fremden Herrschafts- und Kontrollbereich.“ Abweichungen vom gesellschaftlich vorgegebenen Körperbild würden durch einen geschlechtsspezifischen Blick der Vorherrschenden überwacht und geahndet, Machtverhältnisse wiederholt.

Liegt es also am Drumherum?

Ja, das Becken bietet umgekehrt tolle Möglichkeiten. Wasser ist ein Element, in dem Sie sich theoretisch, egal welchen Körper Sie haben, super bewegen und richtig gut fühlen können. Da kann man den Körper sehr positiv erleben. Vielen übergewichtigen Kindern macht Schwimmen deshalb wahnsinnig Spaß.

Lebt das negative Körpergefühl immer davon, dass die Anderen besser aussehen?

Aggressives Verhalten kann ähnlich wie Regression und Isolation ein Abwehrmechanismus sein. Den Begriff „Abwehr“ hat Freud 1895 in seinen „Studien über Hysterie“ eingeführt. Er beschreibt das Phänomen des „Ichs“, Angriffe auf seine Integrität durch „Abwehrmechanismen“ zu verteidigen. Zum Schutz der eigenen Konstanz werden innere und äußere Reize durch Verdrängung oder Aggression bekämpft. Lars Heise

Nicht nur, aber die soziale Komponente ist sehr stark. Allerdings in beide Richtungen. Es tut sehr gut, wenn wohlwol­lende Blicke auf einem ruhen. Aus der Forschung zu adipösen Kindern wissen wir, dass sich die Betroffenen in ihrer Familie oft total wohl und geschützt fühlen, weil sie dort akzeptiert werden. Das ändert sich, wenn sie in den öffentlichen Raum gehen, wie eben ins Schwimmbad. Das Ziel von Therapien ist deshalb auch, eine unabhängige Selbsteinschätzung zu erreichen, damit man sich davon frei machen kann. Das ist aber oft ein lebenslanger Prozess, von Jugendlichen kann man das kaum erwarten.

Schon gar nicht im Badezeug.

Richtig. Das Schwimmbad ist nur für Menschen ein Vergnügen, die sich entweder gerne präsentieren oder denen es schlicht egal ist.