: Gesellschaftskritik vom Reißbrett
GRUNDRISSE Eine schnieke Fassade zu bewundern mag auf ja den ersten Blick größeren Genuss bereiten, als abstrakte Bodenpläne zu studieren. Spannender aber ist doch das Papier, auf dem schließlich schonungslos zutage tritt, was bauliche Spielereien zu verbergen suchen
von Jan-Paul Koopmann
Nicht zufällig mit optimalem Blick auf die Bundesstraße 51 steht eine Burg im kleinen Örtchen Barnstorf – irgendwo auf halbem Weg zwischen Bremen und Osnabrück. Sie hat links und rechts Türme mit kantigen Zinnen. Die einfachen weißen Fenster in der Wand mit künstlicher Felsenoptik geben dem Anblick einen Hauch aristokratischer Größe – oder von Disneyland.
Nicht nur hier und auf touristischen Spaziergängen durch mittelalterliche Straßenbilder spielt sich Architekturbetrachtung vor allem an den Oberflächen ab. Die wiederum dienen seit jeher der Repräsentation: des Reichtums des Bauherren oder des jeweils Modernen.
Aufgehübschte Grundrisse
Fast vergessen könnte man darüber, dass in Häusern auch gelebt und gearbeitet werden muss. In Barnstorf zum Beispiel, wo es neben der Burg auch diverse Herrenhäuser, Turmbauten und eine Schwarzwaldmühle gibt. Da irritiert von außen nur die große Zahl Klingelschilder und Briefkästen, die an den Prunkbauten hängen.
Auf dem Papier hingegen ist die Sache sofort klar, auch wenn so ein Grundriss erst einmal weniger schön anzuschauen ist. Für das ungeübte Auge sind die abstrakten Zeichnungen schwer zu lesen und insgesamt doch eher trocken. Wer heutzutage eine Wohnung verkaufen will, lässt daher die Grundrisse fürs Exposé aufhübschen.
Soziales Dokument
Das passiert entweder durch 3D-Effekte oder wenigstens durch – meist sinnfreie – Farbe. Deren eigentlicher Sinn liegt ja ohnehin in der Funktionalität. Und die lässt sich in der freien Wildbahn besonders nachdrücklich zum Semesteranfang betrachten, wenn frisch gebackene Studierende mit dem Plan der neuen Wohnung in der einen und Geodreieck in der anderen Hand durch Ikea stromern.
Vor allem aber ist der schlichte Grundriss ein auf den Quadratzentimeter präzises Dokument gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Und das insbesondere deshalb, weil heute meist frei konstruierte Häuser keine tragenden Wände haben und fast ausschließlich nach den Bedürfnissen der BewohnerInnen ausgestaltet werden – oder werden könnten.
Früher ging das so: Der als repräsentativer Herrensalon verstandene Wohnbereich fraß viel Grundfläche, während die Küche als „Frauenarbeitsplatz“ irgendwo nach hinten gezwängt wurde. Solch ein Konzept spiegelt Gesellschaft nicht nur, sondern prägt sie auch. Insbesondere in Sozialwohnungen, Heimen oder Gefängnissen ist das der Fall, wo man gar nicht erst versucht, die im Bau realisierte Gewalt zu verstecken.
Die Geschlechtertrennung mag heute aufgeweicht sein. Doch immer noch sind Kinderzimmer meist klein und Wohnküchen für die Gastgeberei geräumig. Doch obwohl sich die Gesellschaft inzwischen verändert hat und soziale Fronten heute anders verlaufen: Auch die neuen Hierarchien finden sich im Beton auf dem Papier wieder.
Avantgarde in Hamburg
Eine frühe und bewusst über die bestehende Ordnung hinaus konstruierte Ausnahme findet sich in Hamburg-Ohlstedt. Das 1928 entworfene Haus Müller-Drenkberg war damals wegen seines avantgardistischen Äußeren umstritten. Es erforderte sogar eine Sondergenehmigung der Oberbaudirektion.
Die eigentliche Leistung des Architekten Karl Rudolf Schneider ist aber erst dem Grundriss zu entnehmen und liegt in der Gleichwertigkeit der Wohnräume. Das macht den Anspruch von Gleichberechtigung an die Gesellschaft sichtbar und verwirklicht sie im Mikrokosmos Ein-Familien-Haus.
Dabei geht es allerdings nicht nur um die Größe der Räume, sondern auch um andere Fragen des täglichen Lebens: Wer hat wann welches Licht? Welche Wege werden den Bewohnern zugemutet? Und sitzt am Durchgang ein Bewacher oder doch nur jemand, der Lärm und Unruhe des Kommens und Gehens aushalten muss?
Gebauter Materialismus
Die Aufbruchstimmung des Hauses Müller-Drenkberg aus der Weimarer Zeit fand ein abruptes Ende: Vom Nazi-Regime als angeblicher „Kulturbolschewist“ mit Bauverbot belegt, emigrierte der Architekt Schneider 1938 in die USA. Und nach dem Zweiten Weltkrieg galt das gleichberechtigte Bauen in der postfaschistischen Bundesrepublik nicht gerade als Leitlinie.
Die Architektur mit ihrem notwendigen Hang zu Plänen, Organisation und Zahlen erweist sich so als materialistischer Zugriff aufs Soziale. Die Ausgestaltung von Wohnraum und Arbeitsplatz ist schließlich eine elementare Stellschraube gesellschaftlichen Seins. Das gilt ganz unabhängig davon, ob sie – wie es Schneider in den 1920er Jahren tat – kritisch daherkam oder ob heute profitorientierte Wohnungsbauer Flächen für möglichst viele Arbeiter-Schlafsärge optimieren.
In jedem Fall machen die schlichten und ungeschönten Pläne die Bedingungen des Lebens verhandelbar. Das setzt eine Problematik sachlicher Kritik aus, die von der Werbung mit ihrem „Wohnst du noch oder lebst du schon?“ als Glücksversprechen in die Welt geblasen wird und an der sich selbst die Esoterik von Fengh Shui bis zu Waldorfs Tick mit den rechten Winkeln abarbeitet.
Auch das übrigens nicht erst seit gestern: Immer, wenn von Zierrat abstrahiert wird, versucht der Irrationalismus, die Lücke zu füllen. So glauben manche, im Grundriss des italienischen Castel del Monte habe der Stauferkaiser Friedrich II. Hinweise auf die Grabkammer der Cheopspyramide versteckt – auffindbar durch das Zusammenspiel von Grundriss und Schattenwürfen der realen Anlage.
Vielleicht ist das Unsinn. Ganz sicher aber ist es ein Verweis auf das Bedürfnis, dem Abstrakten etwas Geheimnisvolles zu entlocken. Vielleicht ist es auch eine Ahnung, dass in der Abstraktion tatsächlich mehr steckt als nur die banale Anordnung irgendwelcher Zimmer.
Tipps für die Praxis
Aber genau das ist so ein Plan natürlich auch. Muss er ja. Und wo das Kapital heute angesichts echter und phantasierter Krisen in Immobilien flüchtet, spielt natürlich auch der praktische Aspekt eine Rolle für den Markt. Da erscheinen plötzlich Bücher wie „Vorbildliche Grundrisse“ bei der Deutschen Verlagsanstalt. Darin erklärt Architektin Bettina Rühm in hübscher Nüchternheit, worauf es beim Schnitt preisgekrönter Häuser ankommt.
Das soll Bauherren eine Hilfe sein und MieterInnen in die Lage versetzen, den Grundriss richtig zu lesen – alles ganz ohne gesellschaftliche Visionen vorsortiert für Singles, Paare und Familien. Man muss so nicht leben wollen, aber lernen lässt sich da doch mindestens eine ganze Menge.
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