LeserInnenbriefe
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Auf dem Weg zur Ivy League

betr.: „Die Streberinflation“, taz vom 6. 8. 15

Scharfe Analyse, falscher Adressat: Die „Bildungsinstitutionen“ können wenig an der gegenwärtigen und sich weiter zuspitzenden Situation ändern. Es sind die Länder und der Bund, die massive Fehlanreize setzen: Bessere Bildung im Schulbereich wird eben nicht an Kompetenzen gemessen – das wäre ja auch ziemlich mühsam und anspruchsvoll –, sondern an Noten und immer weiter steigenden Übergangsquoten auf das Gymnasium.

Für die Universitäten gilt das Gleiche: Das Schielen auf das OECD-Kriterium „Akademikerquote“ blendet total aus, dass es in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern mit der dualen Berufsausbildung ein starkes zweites Standbein gibt. Egal: NRW feiert sich jetzt dafür, Abschlüsse zu prämieren, und eine Universität wäre ausgesprochen blöd, wenn sie nicht nach dieser Prämie greift. Diejenigen, die Kosten und Mühen scheuen, werden das auf die schlanke Tour durch bessere Noten und leichteres Studieren tun.

Die von den Bildungspolitikern hartnäckig bestrittene Einser­inflation gibt es de facto längst: An der Universität Münster beispielsweise gab es für das Fach Medizin mehr Bewerber mit der Traum-Abinote 1,0 als zur Verfügung stehende Plätze; der NC, den es inzwischen für fast jedes Fach gibt, wurde wertlos. Die Lösung: eigene Zulassungstests, um die wirklich Geeigneten zu finden. Der nächste Schritt liegt auf der Hand, und er wird das Bildungssystem möglicherweise nachhaltig verändern: Wo Bachelor- und Masterabschlüsse immer weniger Aussagekraft haben, werden auch die „Endabnehmer“, also hauptsächlich Unternehmen, dazu übergehen, sich auf Absolventen „renommierter“ Hochschulen zu konzentrieren oder gleich selbst private und teure Hochschulen zu gründen – siehe die USA mit ihren sündhaft teuren „Ivy League“-Abschlüssen.

Zu Beginn der Bildungskarriere werden finanzkräftige Eltern andererseits dazu übergehen, ihre Kinder auf Privatschulen zu schicken, die gezielt, ressourcenstark und ohne den Ballast bildungsferner und finanzschwacher Mitschüler auf die Aufnahmetests der „guten“ Hochschulen vorbereiten. Das Bildungs­mantra „mehr Schüler zum Abitur, mehr Abiturienten auf die Uni“, ohne dass es zu echten Verbesserungen vor allem in den Schulen und bei deren Personal kam, könnte damit letztlich Teile der öffentlichen Bildung massiv beschädigen.

Wer das nicht will, muss sich Unangenehmes eingestehen: Bessere Bildung wird nicht erreicht, indem man Schulen und Universitäten dazu animiert, Standards zu schleifen, und: Hohe Standards bringen zwangsläufig auch mäßige Noten und Abbrecher mit sich – denn ein großer Teil der Grundschulabsolventen und der Abiturienten ist schlicht nicht gymnasial- beziehungsweise hochschulreif, auch wenn gute Noten das suggerieren. Name ist der Redaktion bekannt

Der S-21-Widerstand lebt

betr.: „Das kleine Glück des Protests“, taz vom 1./2. 8. 15

Wenn Peter Unfried vergeblich darauf gewartet hat, dass die Protestbewegung gegen Stuttgart 21 (S 21) eine „grundlegende sozialökonomische Transformation antreiben könnte“, dann ist er zum einen einer sehr weitreichenden Wunschvorstellung seinerseits erlegen. Zum anderen muss man ihm vorwerfen, dass er die aktuelle Situation unzulässig verkürzt und falsch darstellt, wenn er sagt, dass „heute ein Rest wuterstarrt weiter am Bahnhof zugange ist“.

Ganz im Gegenteil: Auch wenn wir uns nicht mehr nur einem einzigen Abrissbagger gegenübersehen, sondern diversen Baggern und Tunnelbohrmaschinen, denen wir uns nicht mehr direkt entgegenstellen können: Es gibt weiterhin in fast jedem Stadtbezirk Initiativen, die sich regelmäßig mit S 21 auseinandersetzen, die sich aber auch vor Ort in die Kommunalpolitik einmischen (so konnte ein Oberbürgermeister Turner verhindert werden). Es gibt weiterhin die Montagskundgebung und -demo mit durchschnittlich immerhin noch 1.000 Teilnehmern, und es gibt weiterhin ein aktives Aktionsbündnis, das zum Beispiel durch Strafanzeigen gegen das Kanzleramt in Berlin die „Entschwärzung“ von Protokollen erzwang, wodurch die politische Einflussnahme auf die Aufsichtsratsentscheidung für den Weiterbau von S 21 im März 2013 offensichtlich wurde.

Und zum Schluss zur Ehrenrettung der Mahnwache gegenüber dem Hauptbahnhof, an der ich mich auch hin und wieder beteilige: Die „MahnwächterInnen“ sind freundliche, aufgeschlossene Menschen, die sich über jeden interessierten Besucher freuen, sich aber leider auch manches aggressiven S-21-Befürworters erwehren müssen. REINHARD BOUCHÉ, Stuttgart

Sehnsucht nach Karl Kraus

betr.: „Handreichungen“, „Wie lässt sich Widerstand 2.0 denken?“, „Mir wird schlecht“, taz vom 5. 8. und 27. 7. 15

Drei Beiträge, von Charlotte Wiedemann, Isolde Charim und Doris Akrap, die Hoffnung machen: Lange nicht so kluge Gedanken zu linker Theorie und Widerstand gelesen wie in der „Boulevard“-Kolumne von Isolde Charim, dank für die – ja auch taz-kritisch zu verstehenden – „Handreichungen“ zur politisch nur noch korrekten Presse von Charlotte Wiedemann.

Die Sehnsucht nach Karl Kraus und Carl von Ossietzky ein wenig gestillt, aber noch wichtiger: Beiträge, die Hoffnung machen, dass das „linke Projekt taz“ nicht nur erinnert, sondern wieder stärker journalistisches Anliegen wird.

GÜNTER REXILIUS, Mönchengladbach