Der Merve Verlag und eine Karte für progressives Denken
: Wie lässt sichWiderstand 2.0 denken?

Foto: privat

Knapp überm BoulevardvonIsolde Charim

Man muss es einmal aussprechen: In Berlin läuft ein äußerst ambitioniertes Projekt, seit Tom Lamberty den dahinsiechenden Merve Verlag übernommen und der Philosoph Armen Avanessian dort eine Reihe unter dem Stichwort „Spekulation“ gestartet hat. In seiner wunderbaren Geschichte des Merve Verlages – „Der lange Sommer der Theorie“ – schreibt Philipp Felsch dazu: „Zum Glück gibt es Nachfolger, die das operative Geschäft fortführen.“ Die Frage aber bleibt offen, ob sie auch das Projekt „merve“ fortführen können, das Projekt der Theorie als Wahrheitsereignis der Linke, wie es der im vergangenen Jahr verstorbene Peter Gente einst begonnen hat. Können die Nachfolger die publizistische Mission des Verlags wiederbeleben?

Lamberty und Avanessian sind so etwas wie die Trümmerfrauen des Merve Verlags. Sie versuchen, das alte Projekt fortzusetzen und zu erneuern, in mancher Hinsicht aber auch zu konterkarieren. „Merve 2.0“, wie sie es auch nennen, ist Kontinuität und Diskontinuität in einem.

Zur Kontinuität gehört die Wiederbelebung der emphatischen Idee eines linken Verlags: ein Klima geistiger Intensität herstellen, einen Gegendiskurs befördern, kurzum: den Verlag als „Rezeptionszusammenhang“ verstehen (Felsch). Dazu gehört ein fortlaufender Diskurs ebenso wie die ständige öffentliche Diskussion. Was Merve 2.0 jedoch nicht fortsetzt, ist die 70er-Jahre-Vorstellung des Verlags als politische Lebensform zu verstehen, als Partisanenexistenz. Was Merve 2.0 gar konterkariert, ist etwas, das Merve 1 in den späten 80er Jahren selbst befördert hat: das Abwandern der Theorie in die Ästhetik. Das neue Projekt möchte die Theorie „aus der Kunstecke“ herausholen (Lamberty). Merve 2.0 ist ein back to the merve roots. Und diese roots liegen in einem emphatischen Theoriebegriff, in dem von Althusser stammenden Konzept der Theorie als theoretische Praxis. Diese Art von Begriffsarbeit ist auch der Kern des neuen Merve-Projekts. Die Reihe „Spekulation“ zeigt: Unser Analyse-Instrumentarium ist veraltet. Sie möchte eine „kognitive Karte“ für das progressive Denken heute skizzieren. Als Überwindung des ökonomischen, technologischen und medialen „Analphabetismus“ der Linken. Ein ambitioniertes Vorhaben. Ob es tatsächlich gelingt, neue Formen des Widerstands zu entwerfen, ist noch offen. Klar ist jedoch, dass sich hier das Unbehagen an der gegenwärtigen Situation artikuliert. Das Unbehagen an einem Regime, dessen Unterdrückungs- und Kontrollformen jenen des Einspruchs bei Weitem überlegen sind.

Es war immer schon Merve-Konzept, eine neue Linke zu begleiten und zu befördern, etwa durch Theorieimporte. Früher vorwiegend aus Frankreich, heute eher aus dem angelsächsischen Raum. Waren die 70er Jahre geprägt von Abschieden – den Absagen an das Subjekt, die Metaphysik, die großen Erzählungen, die Geschichte –, so versucht Merve 2.0 die Wiedergewinnung all dieser Kategorien nach ihrem Ende. Eine Postpostoperation.

Zeit des Posthumanismus

Ausgangspunkt ihrer neuen Erzählung ist, dass diese zentralen Momente im neuen Kapitalismus realisiert sind. So handelt das Finanzkapital heute mit jener Zukunft, die der Linken verloren gegangen ist. Und in den automatisierten kapitalistischen Abläufen ist der Posthumanismus verwirklicht: Der Mensch spielt keine Rolle mehr. Nur unsere politische Vorstellungskraft hinkt dem hinterher: Weder hat sie eine postutopische Vorstellung von Zukunft noch ein posthumanistisches Handlungskonzept – also eines, das nicht auf einer nostalgischen Vorstellung des Menschen basiert.

All dies soll ihr nachgereicht werden. Das Problem ist nur: Wenn die neue Linke ihre Begriffe und Konzepte im Kapitalismus bereits vorgefertigt findet, wo verläuft dann die Grenzlinie? Was ist das Kriterium für die Differenz zwischen progressiv und affirmativ? Und wie können wir heute eine posthumanistische Form des Widerstands denken? Der alte Antihumanismus hatte dafür noch eine politische Form anzubieten: die Partei. Die posthumanistische Linke heute gibt sich zwar ein Manifest – jenes des Akzelerationismus –, aber welches Subjekt ruft sie damit an? An dieser Stelle ist die kognitive Karte noch ziemlich weiß. Merve 2.0 hat noch viel zu tun.