Obama wieder „einer von uns“

USA Vor 800.000 Menschen hält Barack Obama eine flammende progressive Rede zur Amtseinführung. Er definiert eine zeitgemäße Vision sozialer USA. Das kommt gut an

„Ich will meinen Enkeln sagen können: Ich war dabei“

DEE THOMAS, NEBRASKA

AUS WASHINGTON DOROTHEA HAHN

„We, the people“ – Wir, das Volk – ist der erste Satz der Präambel der US-Verfassung. Und es ist zugleich ein Slogan, den die Tea Party und andere rechte Bewegungen in den vergangenen Jahren an sich gerissen haben, als wäre er ihr Eigentum. Am Tag seines öffentlichen Eides für seine zweite Amtszeit hat Barack Obama diesen Satz zurückgewonnen. Und hat ihm einen neuen – inklusiven und zukunftsgewandten – patriotischen Sinn gegeben. Fünf Mal ruft er in die jubelnde Dreiviertelmillion Menschen in der Mall im Herzen von Washington: „We, the people“. Und nennt immer wieder jene Gruppen, deren Gleichstellung er als das Maß der Annäherung an die Verfassung versteht: Frauen, AfroamerikanerInnen, Schwule und Lesben, ImmigrantInnen (mit und ohne Papiere) und UmweltschützerInnen. „Wir sind“, sagt der Präsident, „wie gemacht für diesen Moment“.

„Hier findet Geschichte statt“, sagen Menschen, die in der Eiseskälte schon seit den frühen Morgenstunden auf der Mall stehen. Unter ihnen sind auffallend viele schwarze US-AmerikanerInnen. Viele sind vom anderen Ende der USA angereist, um ihren Präsidenten zu hören. Viele, die es beim ersten Mal, im Januar 2009, nicht geschafft haben, wollen diese definitiv letzte Gelegenheit nutzen. „Ich will meinen Enkeln sagen können: Ich war dabei“, erklärt Dee Thomas, die aus Nebraska in die US-Hauptstadt geflogen ist. Wie viele andere, die an diesem Tag in der Mall sind, hat sie Wahlkampf für Obama gemacht. Sie weiß aus vielen Gesprächen am Telefon und an Haustüren, was die WählerInnen von ihm erwarten. Was er bei seinem zweiten Amtsantritt sagt, entspricht dem genau. „Er hat alles angesprochen“, sagt Dee Thomas, „er ist einer von uns.“

Obamas Rede ist gespickt mit historischen Anspielungen und Symbolen. Es ist zugleich die seit Jahrzehnten ideologischste und kämpferischste Rede, die ein US-Präsident am Anfang einer Amtszeit am Rand des Kapitols gehalten hat. Monate nach dem Ende des Wahlkampfs und Jahre nach dem Beginn einer Kampagne, die ihn – und seine Gefolgsleute – mal als „unamerikanisch“, mal als „illegitim“, mal als „tyrannisch“ beschimpfen, antwortet der Präsident kämpferisch Punkt für Punkt. Er nennt drei Orte für die Geschichte der USA, die den rechten Thesen diametral entgegenstehen: Seneca Walls (für die Deklaration der Frauenrechte), Selma (wo Rassisten mehrere schwarze Bürgerrechtler beinahe totgeschlagen haben) und Stonewall (wo die neue Schwulenbewegung in den USA begonnen hat). Er widmet der Klimaveränderung, die er selbst im Wahlkampf sorgfältig verschwiegen hat, eine der längsten Passagen seiner Rede. Er bezeichnet die Sozialleistungen, die zuletzt sein Herausforderer im Präsidentschaftswahlkampf als Aufforderung zum Sozialschmarotzertum und zur Untätigkeit diffamiert hat, als Zeichen der Größe einer Gesellschaft.

Obama antwortet auch auf den radikalen Wirtschaftsliberalismus der anderen Seite. Ein freier Markt, sagt er, kann nur erfolgreich sein, „wenn Regeln den Wettbewerb und das Fair Play sicherstellen“. Und er wiederholt, dass Eisenbahnen, Highways und Forschungslabors wichtig sind, damit die Wirtschaft florieren kann.

Auch gegenüber der neuen, stark werdenden Minderheit in der US-Gesellschaft setzt Obama deutliche Zeichen. Er lässt die aus einer lateinamerikanischen Einwandererfamilie stammende oberste Richterin Sonia Sotomayor seinen Vize Joe Biden ins Amt einführen. Er holt mit Richard Blanco einen Latino und bekennenden Schwulen als Dichter in die Amtseinführung.

Obama-GegnerInnen sind nicht an der Mall. Sie fluchen vor ihren Fernsehbildschirmen und schicken boshafte Tweets um die Welt. Präsident Obama fordert seine Basis – wie dereinst Franklin D. Roosevelt – auf, ihn zu unterstützen und anzutreiben. Am Abend, als er mit First Lady Michelle in seine zweite Amtszeit tanzt, versichern linke Anhänger ihm bereits, dass sie ihn ernst nehmen. Dass sie ihm helfen wollen, der Präsident zu werden, der gegen Klimakatastrophe und Kriege kämpft und der sich für die Gleichberechtigung aller einsetzt. Die Bürgerrechtlerin und Feministin Angela Davis sagt es so: „Leidenschaftliche Unterstützung“.

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