SPD-Körper hat Schmerzen

Franz Müntefering redet hier nicht mehr: Die NRW-SPD muss nach der Berliner Chaoswoche ohne prominente Genossen ihren „Zukunftskonvent“ abhalten. Statt Promis diskutieren Professoren

Platzeck fehlt, Münte weg: Die Partei leidet an einem kollektiven Phantomschmerz

AUS OBERHAUSENMARTIN TEIGELER

Franz Müntefering ist weg. Die rund 1.000 Teilnehmer des „Zukunftskonvents“ der NRW-SPD durften am Samstag nur über, aber nicht mit dem künftigen Ex-Parteichef sprechen. „Die Chancen nutzen. NRW 2010“, lautete das Motto des Strategiekongresses in einer alten Zinkfabrik in Oberhausen. Doch auf den Fluren, in den Raucherpausen, gab es für die Genossinnen und Genossen nur ein Thema: Was wird aus uns ohne Franz? Zwar soll der Sauerländer ja bekanntlich Vizekanzler und Arbeitsminister werden, aber das Fehlen des Parteiführers Müntefering führte in Oberhausen zu einem kollektiven Phantomschmerz am sozialdemokratischen Parteikörper. Während die NRW-Basis darüber leise, diskrete Trauergespräche führte, weilte Müntefering in Niedersachsen bei einem SPD-Landesparteitag.

Auch Matthias Platzeck, der designierte neue Bundesvorsitzende, kam nicht nach Oberhausen. „Er hat sich sehr über die Einladung gefreut“, erklärte SPD-Landeschef Jochen Dieckmann den nordrhein-westfälischen Sozialdemokraten. Der Brandenburger habe jedoch wegen anderer Terminverpflichtungen nicht im Ruhrgebiet erscheinen können. Trotz der „turbulenten“ Woche rief Dieckmann die Partei zur Geschlossenheit auf: „Es darf trotz aller Verbitterung, die es darüber gibt, nicht zu einem Stillstand kommen.“ Müntefering weg, Platzeck nicht da: Termine beim mitgliederstärksten Landesverband gehören offenbar nicht mehr zum Pflichtprogramm der SPD-Bundesspitze gehören. Und so debattierte die Landespartei ohne Parteipromis über ihre Neuausrichtung nach dem Machtverlust vom 22. Mai.

Statt Politikern beherrschten zwei Professoren die Bühne. Es traten gegeneinander an: Ökonom Gerhard Bosch vom Gelsenkirchener Institut für Arbeit und Technik sowie der Soziologe Rolf G. Heinze (Ruhr-Uni Bochum). Auch nach dem Münteschock und den Berliner Chaostagen folgten die Basisvertreter der akademischen, inhaltlichen Debatte. Konzentriert lauschten sie dem Professoren-Disput. Wer wollte, konnte sogar eine wissenschaftliche Fortschreibung der gegenwärtigen Hauptkonfliktlinie innerhalb der Sozialdemokratie in dem rund einstündigen Streitgespräch erkennen.

Bosch und Heinze verkörpern auf ihren Professorenstühlen den Grundkonflikt der Regierungs-SPD. Der Gelsenkirchener Bosch kritisierte den „neoliberalen“ Zeitgeist, die Logik, durch Kostenreduzierungen und Dumpingpolitik neue Arbeitsplätze zu schaffen. Er plädierte mit leiser, aber dringender Stimme für das skandinavische Wohlfahrtsstaatmodell, das Sozialstaatlichkeit und hohe Beschäftigungsquoten miteinander verbinde. Mindestlöhne, keine generelle Erhöhung des Rentenalters auf 67, mehr Investitionen in Familien und Bildung. Bosch erhielt viel Applaus von den Delegierten – was auch als Kritik an der SPD-Regierungspolitik der letzten Jahre ausgelegt werden konnte.

Wie ambivalent – einige Beobachter würden sagen: gespalten – die SPD in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik dasteht, zeigten allerdings die Reaktionen auf den Vortrag des zweiten Professors. Heinze, einst sagenumwobener Vordenker des Neue-Mitte-Duetts Hombach/Schröder, stimmte dem Kollegen Bosch zunächst demonstrativ zu, um dann doch mit Schmackes in eine andere Richtung zu argumentieren. Am Anfang eines wirtschaftlichen Aufschwungs in Deutschlands müsse die „Konsolidierung des Staatshaushalts“ stehen, belehrte er. Auch im hoch gelobten Modellstaat Finnland seien zunächst schmerzhafte Schritte zur Sanierung der öffentlichen Kassen eingeleitet worden, damit Spielräume für mehr Investitionen in Bildung und Kinderbetreuung eröffnet wurden. Also: Rente doch erst ab 67 (außer bei Fabrikarbeitern), Sanierung der Sozialsysteme, „Kultur der Selbstständigkeit“. Der NRW-SPD riet Heinze „regionale Innovationssysteme“, „Cluster“ zu fördern. Insgesamt habe sozialdemokratischer Regierungspolitik in den letzten Jahren ein „Leitbild“ gefehlt. Auch Heinze bekam Beifall.

Wohin die NRW-SPD will, weiter auf Heinzes dritten Weg oder doch auf den anti-“neoliberalen“ Kurs à la Bosch, soll künftig jährlich auf ähnlichen Konventen debattiert werden, kündigte Landeschef Dieckmann an. Am späten Nachmittag wurde dann nicht mehr über Inhalte, sondern wieder über Personen geredet. Bei der nicht öffentlichen Vorbesprechung für den SPD-Bundesparteitag in der kommenden Woche gerieten jene Bundesvorstände unter Druck, die gegen Münteferings Sekretärskandidaten Kajo Wasserhövel gestimmt hatten. „Das war teilweise sehr laut“, sagte ein Sitzungsteilnehmer. Dennoch will die NRW-SPD in Karlsruhe „geschlossen“ auftreten und alle ihre Kandidaten für den Bundesvorstand durchbringen.