Schmelzen auf Pause

KLIMAWANDEL Die Eismassen in der Arktis sind 2013 etwas langsamer geschmolzen. Einen Hoffnungsschimmer sehen Wissenschaftler dennoch nicht – zumindest nicht alle

Mehr Platz für Schiffe – aber weniger Lebensraum für Eisbären Foto: reuters

von Reinhard Wolff

Die weltweit wärmste 12-Monats-Periode seit dem Beginn regelmäßiger Temperaturaufzeichnungen vor 135 Jahren, die die US-Wetterbehörde NOAA in dieser Woche vermeldete, hinterlässt in der Arktis deutliche Spuren. Auf Grönland schmelzen derzeit täglich 10 Milliarden Tonnen Inlandeis und die Flächenausdehnung des arktischen Meereises lag Ende Juni um 7,7 Prozent unter dem Durchschnitt der Jahre zwischen 1981 und 2010. Nur 2007 und 2012 war in einem Monat Juni die Ausdehnung der Eis­decke rund um den Nordpol noch geringer gewesen als 2015. Aber ist das vielleicht alles gar nicht so dramatisch? Denn gleichzeitig gab es eine andere Nachricht: Das Arktis-Eis sei offenbar widerstandsfähiger als bislang angenommen.

Das legt zumindest eine in der naturwissenschaftlichen Fachzeitschrift Nature-Geo­science veröffentlichte Studie der Klimaforscherin Rachel L. Tilling und eines Teams vom Zentrum für Polarforschung des University College London nahe. Nach dem Rekordminimum des Jahres 2012 sei das Sommereis in den Jahren 2013 und 2014 um jeweils 33 beziehungsweise 25 Prozent gegenüber dem Schnitt der Jahre 2010 bis 2012 „angewachsen“ – also im Verhältnis zum Wintereis weniger geschmolzen.

Das ergab eine Auswertung von 88 Millionen Messdaten über Eisfläche und -volumen, die der Satellit CryoSat-2 seit 2010 über der Arktis sammelt. „In einem einzigen kalten Jahr kann man offenbar einiges von dem Eis zurückbekommen“, meint Tilling: „Was auch bedeutet, dass es Hoffnung für eine deutliche Erholung für das arktische Meereis geben würde, könnte man die Uhr hin zu kälteren Temperaturen zurückdrehen.“ Das allerdings setze eine erhebliche Reduktionen beim Ausstoß von Klimagasemissionen voraus.

Entwarnung könne man also keineswegs geben, betont Tilling: „Der langfristige Trend für das Arktis-Eis geht nach unten, die Kurve bei den Temperaturen zeigt nach oben. Daran ändert ein anomales Jahr nichts.“ Und ein solches vergleichsweise relativ kaltes Jahr sei 2013 eben gewesen: Der Sommer war 5 Prozent kälter als 2012, weshalb es regional 5 bis 9 Schmelztage weniger gegeben habe. Eine Verschnaufpause. Dass aber ein einziger kälterer Sommer so deutliche Auswirkungen auf das Arktiseis haben könnte – „damit hatten wir nicht gerechnet“, so Tilling.

„Der langfristige Trend für das Arktis­Eis geht nach unten“

Rachel L. Tilling

Eine Aussage, die Klimaforscher Ed Hawkins von der britischen University of Reading nicht unterschreiben möchte. Solch zeitlich relativ begrenzten Messungen, wie sie der neuen Studie zugrunde lägen, seien nur eine bloße Momentaufnahme. Seit den späten 1970er Jahren sei die sommerliche Ausdehnung des Arktis-Eises im Schnitt um 40 Prozent gesunken. „Und steigen die Temperaturen in der Arktis weiter, wird das Eis in den kommenden Jahrzehnten immer mehr schmelzen, daran gibt es keinen Zweifel.“

Dabei rechne man allerdings gar nicht mit einer linearen Entwicklung: „Es wird immer kurze Perioden geben, die dem Trend zuwiderlaufen. Kritisch gegenüber der neuen Studie äußert sich in der Washington Post auch Mark Serezze, Direktor des US-amerikanischen „National Snow and Ice Data Center (NSIDC)“. Die Behauptung, das arktische Eis sei womöglich weniger anfällig gegen die Erwärmung als bislang angenommen und könne sich schneller „erholen“, vermag er nicht nachzuvollziehen. Was die Messungen zeigten, sei allein, dass das Eis in seinem Volumen und seiner Ausbreitung höchst variabel sei.

Und was bedeutet das für diesen Arktissommer? Er liegt im langfristigen Trend. Laut der aktuellen NSIDC-Einschätzung werde die Wärme wohl zu einem schnellen Eisverlust führen.