Berlinmusik

Ein Berliner Schubert

Schubert? Das war doch der mit den tollen Liederzyklen, „Winterreise“, „Die schöne Müllerin“. Seine „Impromptus“ und „Moments musicaux“ für Klavier waren auch sehr schön, dazu noch ein bisschen Kammermusik. Aber ein Symphoniker?

Tatsächlich wurde Franz Schubert bis vor Kurzem als ein Komponist betrachtet, der in kleinen Formaten ganz Erstaunliches geleistet hat, dem aber auf der Langstrecke leicht die Puste ausging. Dass ausgerechnet seine bekannteste Symphonie nur halb fertig geworden und als „Unvollendete“ in die Musikgeschichte eingegangen ist, hat da wenig geholfen.

Der Dirigent Nikolaus Harnoncourt, in Berlin geboren, danach in Österreich aufgewachsen, hat sich schon früh für Schuberts Orchestermusik eingesetzt. Als einer der wichtigsten Pioniere in Sachen historische Aufführungspraxis hat er immer wieder neue Blicke auf Werke vom Barock bis zum 19. Jahrhundert ermöglicht und geholfen zu verhindern, dass Interpretationsroutinen zu Klischees erstarren. Für konservative Klassikfreunde waren seine Lösungen oft genug ein Affront gegen ihre liebgewordenen Hörgewohnheiten.

Er selbst ist jedoch kein Fundamentalist des authentischen Klangs, sondern versucht bloß, den Absichten der Komponisten, so gut es geht, gerecht zu werden, ist sich dabei aber stets bewusst, dass dies nicht ohne eigene Entscheidungen geht, dass er als Interpret der Gegenwart eine „eigene“ Deutung anbietet. Daher hat er seinen Schubert-Zyklus mit sämtlichen Symphonien Schuberts, zwei späten Messen und der Oper „Alfonso und Estrella“ auch nicht mit einem auf historischen Instrumenten kratzenden Ensemble eingespielt, sondern mit den „modernen“ Berliner Philharmonikern. Auf deren Hauslabel ist das gemeinsame Projekt jetzt als stattliche, etwas sperrige Box erschienen.

Die Reibung zwischen Harnoncourts Vorliebe für schroffe Akzente und dem brillanten Klang der Berliner Philharmoniker ist erfrischend. Auch die zurückgenommenen Tempi passen gut zu der zwischen Leichtigkeit und Schwere oszillierenden Klangsprache Schuberts. So entsteht die Spannung in der „Unvollendeten“ nicht durch Geschwindigkeit, sondern durch dynamische Kontraste. Seine anderen Symphonien kann man in ebenso transparenten wie staubfrei-packenden Darbietungen entdecken – die dramatische vierte, die tänzelnde sechste oder die majestätische achte, die „Große“. Langstreckentest bestanden.

Tim Caspar Boehme

Berliner Philharmoniker, Nikolaus Harnoncourt: „Franz Schubert“ (Berliner Philharmoniker Recordings)