fette etikette von RALF SOTSCHECK
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In keinem Land der Erde ist Etikette wichtiger als in England. Es gibt in London Schulen, auf denen Kindern japanischer Neureicher Hofknicks und Tischmanieren beigebracht werden, es gibt Zeitschriftenkolumnen, in denen unkorrektes Benehmen auf dem Fußballplatz gegeißelt wird, und es gibt auf dem Büchermarkt jedes Jahr einen Stapel Neuerscheinungen, die die höflichste Nation Europas auf dem neuesten Stand in Sachen Benimm halten. Schließlich ändert sich die Welt ständig, und um sich auf unbekannte Situationen einstellen zu können, benötigt der Engländer Regeln.

So hat „Debrett’s Guide To Etiquette“ in seiner jüngsten Auflage drei neue Regelverstöße definiert: Man verkündet nicht beim Dinner, dass man seine sexuelle Orientierung geändert habe; man isst im Restaurant keine Maiskolben; und frau stillt nicht in der Öffentlichkeit. „Es zeugt von schlechten Manieren, öffentlich Flüssigkeiten aus irgendeiner Körperöffnung abzusondern, und Stillen ist keine Ausnahme“, zeigefingert der Autor.

In der Zeitschrift Emily Post’s Etiquette erklärt die Autorin, dass „kleine Jungen in Schnellrestaurants die Mütze aufbehalten“ dürfen. Das wird die kleinen Jungen freuen, denn dadurch – das kann man täglich beobachten – haben sie beide Hände frei, um im Familienrestaurant McWimpyking andere Gäste mit tomatensoßigen Fritten zu bewerfen, wenn sie nicht gerade mit fettigen Händen Kurzmitteilungen auf dem Handy verfassen.

Auch dafür hält Frau Post einige Hinweise bereit: Man lässt es mindestens sechsmal klingeln, bevor man aufgibt, weil Frauen nun mal eine Weile brauchen, bis sie das Handy aus der Handtasche gefischt haben. Äußerst unhöflich sei es, auf seiner Mailbox sein Lieblingslied als Begrüßungsmelodie zu spielen, so dass sich der Anrufer erst mal „Danny Boy“ anhören muss, bevor er seine Nachricht hinterlassen darf. Das ist übrigens eine der wenigen vernünftigen Regeln der Benimmpolizei.

Alles fing mit Baldassare Castigliones „Buch des Hofmanns“ im 16. Jahrhundert an. Er empfahl, dass es stets höflich sei, beim Tennis zu verlieren – eine Regel, die von den Engländern offenbar seit Jahren beherzigt wird, wenn man die Wimbledon-Ergebnisse betrachtet. Castiglione hatte großen Einfluss auf die Definition des englischen Gentleman. Anmut, Ausgewogenheit und Geist gehören zu seinen Eigenschaften – und „Sprezzatura“, mit der man ohne sichtbare Anstrengung seine Aufgaben bewältigt.

Im 19. Jahrhundert war man auf der Insel regelrecht besessen von korrekten Umgangsformen, besonders bei Tisch. Als Königin Viktorias Enkel berichteten, dass die Queen ganze Hühner mit bloßen Händen verspeiste, bekam der Benimmzwang nur zeitweise einen Knacks. Johanna Schopenhauer schrieb nach ihrer Englandreise vor 200 Jahren: „Etikette ist in England überall an der Tagesordnung. Dem Briten geht es mit ihr wie den Frauen mit ihrer Schnürbrust, wenn sie sich von Jugend auf daran gewöhnt haben. Sie fühlen sich unbehaglich, wenn der gewohnte Zwang aufhört, und wissen ohne ihn nicht zu leben.“ Das gilt auch heute noch. In welchem anderen Land entschuldigt man sich bei demjenigen, der einem gerade auf den Fuß getreten ist?