„Weil wir keine Wahl haben“

Flucht Die Performance „Herz der Finsternis“ des Theaters der Migranten ist eine Intervention im öffentlichen Raum. Die Zuschauer begeben sich dafür auf eine nächtliche Irrfahrt über die Kanäle Neuköllns

Ziel des Stücks ist ein Zurückerobern dessen, was der Staat für sich in Anspruch genommen hat

von Inga Barthels

Ismaels Traum ist es, einmal ein großer Schauspieler zu werden. Das Theaterspielen, erzählt er, macht ihm großen Spaß und lenkt ihn von Problemen seines Alltags ab. „Aber an meiner Situation hier in Deutschland wird das nichts ändern“, sagt er dann. „Die ist katastrophal.“ Ismael ist aus Burkina Faso nach Europa geflohen, seit neun Monaten lebt er in Berlin. Er liebt das Theater, in seiner alten Heimat hat er sich oft Aufführungen angesehen. Hier fehlt ihm dazu das Geld.

Ismael ist einer der Teilnehmer am Theaterprojekt „Herz des Finsternis“ vom Theater der Migranten, das am Freitag Premiere feiert. Das Stück ist auf der gleichnamigen Novelle von Joseph Conrad basiert. In der düsteren Erzählung, die auch schon Francis Ford Coppola für seinen Kriegsepos „Apocalypse Now“ als Inspiration diente, übt Conrad Kritik am Kolonialismus und Rassismus des 19. Jahrhunderts. Das Theater der Migranten überträgt sie jetzt ins Neukölln des 21. Jahrhunderts.

Künstlerischer Leiter des Projekts ist Olek Witt. Der Schauspieler, Tänzer und Künstler kam in den siebziger Jahren von Polen nach Deutschland. 2008 gründete er das interkulturelle, interaktive Theaterprojekt Theater der Migranten. 2010 arbeitete Witt für „All My Tomorrows“ mit einem Ensemble aus jungen und alten TeilnehmerInnen aus Deutschland und Polen zusammen, um einen Dialog der Generationen zu schaffen. 2012 sorgte er mit „Afghanistan Mon Amour“ für Aufsehen, einer interaktiven Busreise durch Berlin, bei der den ZuschauerInnen von afghanischstämmigen Menschen, die in Berlin leben, die afghanische Kultur nähergebracht werden sollte.

Für „Herz der Finsternis“ arbeitet Olek Witt mit 18 jungen Männern aus 15 verschiedenen Ländern zusammen. Seit Anfang Juni sind sie am Proben. Die Arbeit ist nicht immer leicht, es gibt vor allem Kommunikationsprobleme. Bei den Proben verständigen sich die Teilnehmer und Team mit einer bunten Mischung aus Französisch, Englisch, Deutsch und viel nonverbaler Kommunikation. Die Teilnehmer, die noch kein Deutsch sprechen können, sollen das im Stück auch nicht tun. Witt will unbedingt vermeiden, dass die Teilnehmer wie Opfer wirken. Vielmehr sollen sie ermächtigt werden. Am Anfang des Projekts haben Witt und sein Team mit den Teilnehmern gesprochen, über ihre Geschichten und Schicksale. Einige haben sie dann im Stück verarbeitet. Insbesondere die Fluchtgeschichten vor der Ankunft in Europa interessieren Witt. „Viele Leute sehen nur das Mittelmeer, aber die Flucht beginnt viel früher“, erzählt er. Das Mittelmeer, die Ankunft in Europa, das sei nur die Spitze des Eisbergs.

„Herz der Finsternis“ schickt die ZuschauerInnen auf eine nächtliche Irrfahrt durch Neukölln. Für einen Teil der Performance befinden sie sich auf einem Boot, das den Landwehrkanal entlangfährt, später bewegen sie sich im Dunklen durch unebenes Gelände. „Das ist keine Pauschalreise, das wird ein Abenteuer“, sagt Witt. Er verlässt für seine Stücke bewusst den Schutzraum des Theaters. Die ZuschauerInnen wissen dabei oft sowohl geografisch als auch dramaturgisch nicht, wo genau sie sich gerade befinden. Witt will damit auf künstlerischer Ebene die Unsicherheit und Schutzlosigkeit simulieren, derer die Teilnehmer des Projekts während ihrer Flucht ausgesetzt waren und es jetzt, als Illegale in Deutschland, teilweise noch sind.

Die Intervention im öffentlichen Raum ist aber auch eine Ermächtigung für Witt.“Wir erobern Berlin zurück“, sagt er. Ziel des Stücks sei ein Zurückerobern dessen, was der Staat für sich in Anspruch genommen habe. Dabei müssen er und sein Team sich stets an die Möglichkeiten anpassen, denen der öffentliche Raum ihnen bietet. Die vielen Beschränkungen und Vorschriften machen ihnen dabei zu schaffen, die Performance bewegt sich oft am Rande der ­Legalität.

Ein wichtiges Element in „Herz der Finsternis“ ist die Kritik am Kapitalismus und seinen leeren Verheißungen. Viele der jungen Männer kommen nach Deutschland, weil sie auf Wohlstand hoffen, darauf, Geld für ihre Familien verdienen zu können. Was sie hier erwartet, ist ganz anders.

Das weiß auch Seyni, dessen Geschichte im Stück verarbeitet wurde. Über mehre Stationen ist er aus Mali nach Deutschland geflohen, seine Zukunft hier ist ungewiss. Die Arbeit im Theaterprojekt hilft ihm, seine Erfahrungen zu verarbeiten. Und er will das Projekt nutzen, um seine Ansichten zu vertreten. „Ich will, dass die Menschen hier erfahren, dass wir das nicht aus Spaß machen, sondern weil wir keine andere Wahl haben“, sagt er. „Wir sind auch Menschen.“ Schauspieler, wie sein Freund Ismael, will er nicht werden. Lieber Sänger oder Fußballspieler. Aber erst mal ein normales ­Leben haben.

Expedition auf Berliner Gewässern

Ein Teil des 18-köpfigen Ensembles von Geflüchteten, die es über Grenzen und Meere hinweg nach Berlin geschafft haben Foto: Hendrik Scheel

Gemeinsam mit Geflüchteten und in Kooperation mit dem Heimathafen Neukölln hat das Ensemble des Theaters der Migranten eine multimediale Performance entwickelt. Auf einer nächtlichen Irrfahrt über die Kanäle Neuköllns fragt sie nach den globalen Mechanismen von Migrationsbewegungen, den ökonomischen, politischen Hintergründen und nach einer ungewissen Zukunft in einem postindustriellen Konsens-Kapitalismus. Eine irrlichternde theatrale Expedition, in der das Ufer scheinbar unerreichbar wird und Identitäten in Zweifel geraten. Wichtig: Es gibt überwiegend Stehplätze – die Veranstaltung ist nicht barrierefrei!

„Herz der Finsternis“: Flutgraben e. V., Am Flutgraben 3, Premiere 24. 7., 21 Uhr, weitere Aufführungen: 25. & 31. 7. sowie am 1. 8. jeweils um 21 Uhr, 20/15 €