Der Weltschmerz ist verkraftbar

INDIEPOP Fünf Jahre lang wartete Daniel Decker, Blogger und Musiker, auf den perfekten Moment; dann veröffentlichte er endlich sein melancholisches und erinnerungsgesättigtes Pop-Album „Weißer Wal“

Auf der Suche nach dem weißen Wal: der Musiker und Blogger Daniel Decker Foto: Promo

von Natalie Mayroth

Einhörner sind edle Tiere, strahlend weiß, makellos. Nur selten sind die Letzten ihrer Spezies anzutreffen, das macht sie einsam. Und macht Einsamkeit nicht depressiv?

Ein Exemplar der seltenen Gattung tobt seit 2009 im Netz. Schreibt über Pop-und Internet-Phänomene und vornehmlich über Musik. Der Blogger, Autor und Entwickler Daniel Decker ist das „kotzende Einhorn“. In Blog-Rankings taucht er auf, sein Klickzahlen sind hoch, er tummelt sich auf Netzkongressen wie der Republica, erzählt auf Veranstaltungen, wie man sich selbst vermarktet. Nun tritt er als Musiker unter eigenem Namen in Erscheinung.

Vergangene Nächte

Wehmütig erinnert sein drittes Soloalbum „Weißer Wal“ an vergangene Nächte in der Indie-Disco, an Tomte, Tocotronic, an die Riege der Musiker der Hamburger Popmusik. Irgendwie klingt es wie aus der Zeit gefallen. Gewissermaßen ist es das auch, denn die Songs schrieb Decker vor Jahren, als er noch in Nordrhein-Westfalen wohnte. Gemastert wurde der „Weiße Wal“ schon 2010, von Michael Schwabe – der auch bei den Beat­steaks, Einstürzenden Neubauten und Kettcar für das Matering zuständig war – im Kölner Studio des Musikproduzenten Maximilian Stamm. Die Platte schlummerte quasi in der Schublade, auf bessere Zeiten wartend: Es war eine „schwere Geburt“, wie Decker es nennt. Das erste Album unter eigenem Namen sollte auf Vinyl gepresst sein. Und es sollte genügend Zeit für eine Tour mit einer bis dato nicht vorhandenen Band bleiben. So malte Decker sich damals den perfekten Moment aus, der nie kam. Nun hat er den „Weißen Wal“ doch noch veröffentlicht.

Der Albumtitel ist angelehnt an den Klassiker „Moby Dick“ von Herman Melville. Wie Kapitän Ahab unermüdlich nach dem weißen Pottwal sucht, der ihm einst das Bein abbiss, ist Decker jeden Tag erneut auf der Suche nach seinem weißen Wal: ein wechselndes Ziel, das ihn morgens aufstehen lässt. Da schwingt tiefe, in die Lyrics gebettete Melancholie mit, die größtenteils durch ausgelassene Indiepop-Melodien mit viel E-Gitarren-Einsatz gebrochen wird. Der damals Ende zwanzigjährige Decker lässt düstere bis verzweifelte Gedanken auf poppige Powerchords treffen. Dramatisch mit Prolog und Epilog baut der ehemalige Germanistik- und Musikwissenschaftsstudent sein Album auf.

Im Krieg gegen sich selbst

Seine fast ausschließlich deutschen Texte werden von einer alten Jazzmaster-Gitarre, aber auch durch kleine Choreinsätze und Schlagzeug untermalt. Die Akustik-Gitarre spart Decker aus. Dafür ersetzt er das Saiteninstrument in „Langsames Gift“ durch Klaviertöne. Nachdenklich singt er sich die spätjugendliche Wut vom Herzen. Decker ist im Krieg gegen sich selbst als „embedded journalist“.

Bei dem bereits 2010 veröffentlichten Track „Langsames Gift“, bedient er sich der Worte des US-amerikanischen Arbeiterführers und Folksängers Joe Hills. Und er kommt ohne ein Liebeslied aus. Das sei ihm zu einfach, sagt der Musiker. Als Jugendlicher spielte er in einer Punkband, doch so richtig schreien wird er auch auf diesem Album nicht. Einzig der Song „Helden für einen Tag“ fällt als krachend elektronischer Ausflug aus der Reihe. Da hört man Deckers Faible für die Londoner Nu Raver „Klaxons“ heraus.

Knapp die Hälfte der Instrumente – viel E-Gitarre, Bass und Keyboard – spielte er selbst ein. Doch im Gegensatz zu „Pawn­shop Orchestra“, Deckers Folk-Einmannband, die er von 2001 bis 2008 betrieb, klingt er auf dem „Weißen Wal“ reduzierter. Eine Mischung aus fröhlichen Grundmelodien mit Gesellschaftsskepsis: „Ich gegen diese Welt“, bildet den Refrain des Album-Prologs. Gegen Ende der 48 Minuten kommt er zum Fazit: „Es ist alles nur noch halb so schlimm.“ „Wir wollen niemanden stürzen, nur verändern.“ Im Epilog schickt er seinen inneren Sieg in die Welt.

Vor vier Jahren fand der Wahlberliner in die Hauptstadt. Damals ging es Decker nicht gut. Heute weiß der 33-Jährige: „Eine vernünftige Therapie hilft mehr, als Musik als Therapie zu verstehen.“ Denn traurige Texte und Indiepop als Verarbeitungsstrategie machen noch keine heilende Behandlung aus.

Deckers „Weißer Wal“ soll „wehtun“: Wie ein gefährlicher Strudel reist er in eine widersprüchliche, postpubertäre Parallelwelt, die im Moment des Sich-Auskotzens über das Leben befreiend wird. Genau so bewegend muss wohl eine Begegnung mit einem echten Einhorn sein.

Daniel Decker: „Weißer Wal“ (Tumbleweed/Broken Silence)