Europas Krise

Bis zum frühen Montagmorgen verhandeln die Staatschefs der
Euro-Gruppe. Der Grexit ist vom Tisch. Aber um welchen Preis?

„Heute ist die europäische Idee gestorben“

KRISENMARATHON Beim Griechenland-Gipfel hat Deutschland viel Porzellan zerschlagen. Griechenland wurde überrumpelt, Frankreich übergangen. Teilnehmer sprechen von massivem Druck und „mentalem Waterboarding“. Gerettet ist Hellas trotzdem nicht

Wie lange noch? Reporter warten im Saal der Pressekonferenzen des Europarates auf Neues Foto: Francois Lenoir/reuters

aus Brüssel Eric Bonse

An diesen Gipfel werden sich die EU-Politiker noch lange erinnern, die meisten mit Schrecken. Zwei Tage lang rangen die 19 Finanzminister und die 19 Staats- und Regierungschefs der Eurozone in Brüssel um eine Lösung für die Griechenlandkrise. Eine ganze Nacht lang hing das Schicksal der Währungsunion am seidenen Faden.

Erstmals wurde offen über den Rauswurf eines Landes aus dem Euro diskutiert. Erstmals wurde eine gewählte Regierung gezwungen, ihr Wahlprogramm, ihre Gesetze und eine Volksabstimmung in die Tonne zu klopfen. Erstmals auch wurde Staatsvermögen einer Treuhand-Anstalt unterstellt – wie bisher nur in der ehemaligen DDR.

Am Tag danach tut Kanzlerin Angela Merkel, als sei nichts geschehen. Die nach 17-stündigen Verhandlungen gefassten Beschlüsse seien „ganz auf der Linie früherer Programme“, verkündet sie. „Die Grundprinzipien wurden eingehalten, es gibt mehr Sieger als Verlierer.“ Hat nicht Deutschland gewonnen, wie es die Zeitungen von Athen bis Paris, von London bis Rom vermelden? „Ich hatte nicht den Eindruck, dass wir jetzt in einem deutschen Europa leben“, antwortet Merkel knapp. Kommt das Ergebnis einem neuen Versailler Diktat gleich? „Ich beteilige mich nicht an historischen Vergleichen“, ist die schnoddrige Antwort.

„Ich hatte nicht den Eindruck, dass wir jetzt in einem deutschen Europa leben“

Angela Merkel

Den Namen Emmanuel Macron nimmt Merkel nicht in den Mund. Dabei war es der französische Finanzminister, der die historische Parallele gezogen hatte. Beim Versailler Frieden war Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg zu massiven Reparationen verdonnert worden, ein Grund für die spätere Machtergreifung Hitlers. In Griechenland dürfe sich das nicht wiederholen, forderten Macron und sein Staatschef François Hollande.

Nun wiederholt es sich doch – unter verschärften Bedingungen. Griechenland bekommt zwar die Aussicht – nicht die Zusage – auf ein neues Hilfsprogramm aus dem Eurorettungsfonds ESM. Doch die frischen Kredite soll es zum Großteil selbst finanzieren, mit Erlösen aus der Privatisierung von Staatsbesitz. Und die drückende Schuldenlast wird nicht gekappt, sie wird bestenfalls weiter in die Zukunft verschoben.

Die Forderung nach einem Schuldenschnitt, die zuletzt auch der Internationale Währungsfonds (IWF) erhoben hatte, war schon zu Beginn des Krisenmarathons vom Tisch. Finanzminister Wolfgang Schäuble hatte den „Haircut“ für illegal erklärt. Gleichzeitig zog er ein Papier aus dem Hut, in dem er Griechenland mit einem fünfjährigen „Time-out“ aus dem Euro drohte. Der befristete Grexit ist zwar auch nicht mit EU-Verträgen vereinbar, doch die Drohung zeigte Wirkung.

Finnland, die Niederlande und einige kleinere Euroländer machten sich Schäubles Strategie zu eigen und setzen durch, dass die deutschen Forderungen als Beschlussvorlage auf den Euro-Gipfel kamen. Der Boden für den Durchmarsch war bereitet, danach übernahm Merkel. Gleich nach Beginn des Treffens am Sonntag kam sie zu einer Viererrunde mit Hollande, EU-Ratspräsident Donald Tusk und dem griechischen Premier Alexis Tsipras zusammen.

Wer lacht zuletzt? Tsipras, Hollande und andere  Foto: Francois Lenoir/reuters

Dort wurde es unschön, auch wenn Merkel von „sehr sachlichen“ Verhandlungen sprach. Tsipras wurde vorgehalten, mit seinem Referendum das Vertrauen zerstört zu haben. Um es wiederaufzubauen, müsse er einer ganzen Liste von Spar- und Reformauflagen zustimmen, die die Finanzminister akribisch vorbereitet hatten. Tsipras wurde derart hart rangenommen, dass ein Zeuge von „mentalem Waterboarding“ sprach.

Doch das erste ernste Gebet brachte nicht den gewünschten Erfolg, im Gegenteil: Tsipras kam mit Gegenforderungen. Die „Grexit“-Drohung müsse vom Tisch, der Treuhandfonds auch. Außerdem wollte der Syriza-Politiker, dass der IWF nicht am neuen Hilfsprogramm beteiligt wird, sowie verbindliche Entlastungen beim Schuldendienst. Kurz vor Mitternacht war das Spiel wieder völlig offen.

Vorteile für wen? Merkel trifft in Brüssel ein Foto: Xinhua/imago

Frankreichs Präsident Hollande sprang Tsipras bei, der niederländische Premier Marc Rutte hielt dagegen. Ein paar Mal sei es so hin und her gegangen, berichtete später Italiens Regierungschefs Matteo Renzi. Ein Eklat lag in der Luft.

Doch es kam anders. Wenn man Tsipras glauben mag, so wurde er in dieser Nacht massiv bedroht – mit dem Zusammenbruch des griechischen Finanzsystems. „Der Kollaps war bis ins letzte Detail geplant“, behauptet er auf seiner offiziellen Website. Durch den Deal in den frühen Morgenstunden sei er gerade noch vereitelt worden. „Wir haben verhindert, dass wir finanziell erdrosselt werden.“ Allerdings dürften die Banken in Athen noch viele Tage oder Wochen geschlossen bleiben.

Die „Euroretter“ wollen den Druck offenbar noch so lange aufrechterhalten, bis alle ihre Forderungen umgesetzt werden. Dafür wurden sogar neue Ultimaten gesetzt. Eine feste Zusage, dass die EZB Not leidende Banken rekapitalisiert, bekam Tsipras nicht. Merkel und Schäuble hatten schon im Vorfeld des Brüsseler Marathons dafür gesorgt, dass diese Fragen ausgeklammert werden. Erst die Regeln, dann die Rettung, so die deutsche Devise. Resignierter Kommentar des belgischen Europaabgeordneten Philippe Lamberts (Grüne): „Heute ist die europäische Idee gestorben.“