Deutung von Wirklichkeit

Dokumentarisches, Politisches und Künstlerisch-Konzeptionelles greift ineinander: Zum ersten Mal wird das Werk des Fotografenpaares Andrea Robbins und Max Becher umfassend in Europa gezeigt

VON KÄTHE BRANDT

Die kleine Stadt Postville im US-Bundesstaat Iowa beliefert jüdische Gemeinden in der ganzen Welt mit glatt-koscheren Fleischprodukten, der strengsten Form von Koscher. Der Fleischhändler Aaron Rubashkin, ein in Russland geborener Lubawitscher Jude aus Boro Park, New York, hat hier 1987 ein ehemaliges Schlachthaus gekauft und renoviert. Seither hat sich manches geändert: die Chassidim aus Brooklyn brachten nicht nur ihr jüdisches, sondern auch ihr großstädtisches New Yorker Leben mit in die Provinz: Jugendliche spielen dort Baseball in schwarzen Hosen und weißen Hemden, manchmal mit der Kippa oder einem Hut auf dem Kopf.

In einer sehenswerten Doppelausstellung wird im Düsseldorfer Museum Kunstpalast und der Kölner SK Stiftung Kultur das Schaffen der beiden Fotografen und Video-Künstler Andrea Robbins, geboren 1963 in Boston, und Max Becher, geboren 1964 als Sohn des Fotografenpaares Hilla und Bernd Becher, erstmals umfassend in Europa gezeigt. Ihre beiden Serien „Postville“ und „770“ der Ausstellung „Brooklyn Abroad“ in Düsseldorf gehören zusammen. Das 1940 erworbene, in neugotischem Stil aus roten Ziegeln errichtete Gebäude 770 Eastern Parkway in Crown Heights, Brooklyn, ist Gemeindezentrum der durch den Holocaust vertriebenen Lubawitscher Juden geworden und gilt heute als Mutterhaus der Lubawitscher Bewegung. Es wurde bislang zwölf mal weltweit nachgebaut und im Zuge ihrer künstlerischen Untersuchungen zu architektonischen und symbolischen Identitätsverlagerungen von Robbins/Becher fotografiert: Gebäude-Kopien in Italien, Argentinien, Brasilien, Australien, in Israel und den USA. Diese Fotos sind die formal strengsten Bilder. Aber die Künstler betreiben auch soziologische Recherchen: So dokumentieren viele der Bilder die seltsamen Formen, die frommes Gedenken und lebendige Erinnerung fern der Heimat annehmen können.

Unter dem Titel „Transportation of Places“ (Köln) untersuchen sie Orte, die in Folge von Kolonialismus, Migration, Holocaust, aber auch von Tourismus und Massenkommunikation einen Wandel erfahren haben oder woanders neu erschaffen wurden. Der übertriebene Realismus der starkfarbigen Fotos bestätigt diese als Ergebnisse eines künstlerischen Eingriffs. Die sichtbare Inszenierung der Serie gibt sich als „Operation der Codifizierung“ (Philippe Dubois) zu erkennen. Der symmetrische Bildaufbau und die verschiedenfarbigen Rahmenserien verweisen darauf, dass es sich bei den Bildern immer auch um eine Deutung von Wirklichkeit handelt. Das Dokumentarische, das Politische und das Konzeptionelle greifen ineinander. Ausdrücklich betonen die beiden Künstler den politischen und historischen Gehalt ihrer Arbeiten.

Die meisten Motive der teilweise so absonderlich erscheinenden Bilder haben einen ernsten Hintergrund. So wie in den beiden Teilen von „Brooklyn Abroad“ das jüdische Leben in der Diaspora thematisiert wird. „Colonial Remains“ von 1991 (Köln) beschreibt die architektonischen und kulturellen Hinterlassenschaften der deutschen Kolonialisten in Namibia: schwarze Frauen in Trachten, eine Palme hinter einem Jägerzaun, in Fraktur-Schrift ausgewiesene Benzinpreise an einer Tankstelle. Es gibt viele tragische Schicksale und Beweggründe hinter den Motiven, die den Umgang mit den Fotos nicht immer leicht machen.

Museum Kunstpalast, Düsseldorf (bis 8. Januar) und SK Stiftung Kultur, Mediapark Köln (bis 15. Januar)