Traumsplitter für den klaren Kopf

„Die Träne Koschniks“ oder: Wie Ersatzreliquien zwischen Phantasie und Wirklichkeit gegen das kollektive Trauma wirken und den GröpelingerInnen wieder zu Witz und Stolz verhelfen sollen

Bremen taz ■ Jens Böhrnsen soll auch so eine Ersatzreliquie haben, munkelt man. Heute wird er zum neuen Bürgermeister ausgerufen, die „zerplatzen Träume“ aber habe er schon jetzt: Eine Handvoll liebevoll verpackter Kristallsplitter von den leer stehenden Parkarealen des Space Parks – zu kaufen in der „Gröpelinger Ersatzreliquienhandlung“. Eine Wirkung wird den blauen Traumsplittern auch zugeschrieben: „Sie wirken desillusionierend und ernüchternd“, schreiben die Ausstellungsmacher. „Außerdem sorgen sie für einen klaren Kopf.“

Rund 100 solcher Ersatzreliquien sind derzeit in einem leer stehenden Ladenlokal in der Gröpeliner Heerstraße zu bewundern – und auch zu erwerben. Jede Ersatzreliquie hat von den KünstlerInnen ihre eigene Geschichte bekommen, jede von ihnen ist in Gröpelingen beheimatet. „Aber man weiß nicht, wo die Wahrheit aufhört und wo die Fantasie anfängt“, sagt Christiane Gartner von der Initiative „Kultur vor Ort“.

Geschrieben haben die Geschichten die Gröpelinger selbst, zusammen mit Studierenden der Fachhochschule Ottersberg. Insgesamt beteiligten sich rund 30 Menschen, angeleitet von dem Künstler Peter Klug. Der hatte schon vor zehn Jahren im Viertel ein ähnliches Projekt aufgezogen, bei dem die BesucherInnen unter anderem eine Kinderhose von Marylin Monroe oder eine Locke Schillers bewundern konnten.

In Gröpelingen hat alles mit der Träne Hans Koschniks angefangen. „Sie ist unsere Ur-Ersatzreliquie“, sagt Gartner. Vergossen haben soll sie der damalige SPD-Bürgermeister 1983 – anlässlich der Schließung der Werft. Als klar war, dass der Senat der AG Weser nicht aus der Krise helfen würde, schmiss deren Betriebsratsvorsitzender Ziegenfuß seinem Genossen Koschnik das SPD-Parteibuch vor die Füße. Koschnik – selbst ein Gröpelinger – habe sich daraufhin umgedreht und eine Träne vergossen, erzählt die Geschichte. Einmal aufgefangen, soll sie heute gegen kollektive Traumata helfen. Kostenpunkt: 153 Euro.

Gartner will aber keineswegs nur in Erinnerungen schwelgen und an vermeintlich goldene Zeiten vor 1983 erinnern. „Ganz im Gegenteil.“ Die Ersatzreliquien sollen eine Brücke in die Vergangenheit bilden, um die Zukunft neu zu erfinden. „Wir wollen gegen das kollektive Trauma in Gröpelingen ankämpfen“, sagt Gartner. Die GröpelingerInnen, vor allem die Jüngeren, sollen sich wieder mit ihrem Stadtteil identifizieren und vielleicht auch ein bisschen stolz sein. „Im Viertel ist das ja viel einfacher.“

Zumindest kommerziell ist die Ausstellung schon ein Erfolg. Auch der Zigarrenstumpen, den Willy Brandt einst auf der Werft verloren haben soll, ist schon verkauft. „Massenreliquien werden aber nachproduziert.“ Bis zum Schlussverkauf. Jan Zier

Die „Ersatzreliquien“ sind bis 20. November in der „Galerie vor Ort“ in der Gröpeliner Heerstraße 198 zu sehen.