Berliner Ökonomie
: Die demeritorische Güterproduktion

Das staatliche Glücksspielmonopol wankt. Warum soll nicht auch Greenpeace eine Lotterie aufbauen dürfen?

Der Opernbesucher wird bei uns immer noch hoch subventioniert, ein Glücksspieler dagegen schwer besteuert, ihm wird unterstellt, er sei ungeeignet „for steady work as well as for the higher and more solid pleasures of life“ (A. Marshall, „Pinciples of Economics“). Die Wirtschaftswissenschaftler definieren deswegen das Glücksspiel, ebenso wie Tabak, Alkohol und Prostitution, als ein „demeritorisches Gut“ (negativ abgegrenzt von „meritorisch“ = verdienstlich, der „Demerit“ ist ein straffällig gewordener Geistlicher). Gemeinsam ist den demeritorischen Gütern, dass ihre hohe Besteuerung dem Gemeinwohl zugute kommt, zugleich aber das Gemeinwesen die Konsumenten hartnäckig ablehnt.

Diesen Widerspruch diskutierte 1993 Norman Albers in seiner Doktorarbeit „Ökonomie des Glücksspielmarktes in der BRD“. Er kommt aus einer Buchmacherfamilie, die sich auf das einzige nichtstaatlich dominierte Glückspiel geworfen hat: Pferdewetten, die durch die Landespferdezuchten legitimiert wurden – und damit quasi höheren Zielen dienen. Die Studie von Albers richtet sich gegen die staatsmoralische Fesselung des Glücksspiels, ist also ein Votum für die Privatisierung, indem es die „Notwendigkeit eines Konsumentenschutzes“ in Frage stellte, denn „aus dem generellen Glücksspielverbot mit Erlaubnisvorbehalt resultiert ein Angebotsmonopol des Staates“ – mit widersprüchlichen Folgen: So wurde z. B. extra für Lotto und Glücksspirale das TV-Werbeverbot nach 20 Uhr aufgehoben. Soziologisch wurde dabei argumentiert, dass Kleinfamilienhaushalte anscheinend Glücksspiele mit geringen Einsätzen und hohen Gewinnen bei fast null Chancen favorisieren, Glücksspiele mit hohen Einsätzen und geringen, aber chancenreichen Gewinnmöglichkeiten dagegen ablehnen. Und juristisch wurde dabei mit dem Begriff des „Vermögensschutzes“ operiert: Das Bundesverwaltungsgericht sah 1982 einen theoretischen Höchstverlust von 70 Mark pro Stunde als unbedenklich an, dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof erschienen dagegen 1990 Verluste von 144 Mark pro Stunde hinnehmbar. Aber spätestens mit dem „Anwachsen des Höchstgewinns im Zuge der Kolonnenpreisverdoppelung des Lottos 6 aus 49 im Jahre 1981 und der Einführung des Jackpots 1985“, so Albers, führte der stetige Steuerbedarf in der Folge zu einem Einsatzwachstum, der sich „von der Einkommensentwicklung der Privathaushalte abkoppelte“.

Seit dem neoliberalen Siegeszug gibt es hierbei nun kein Halten mehr. Das Bundesverwaltungsgericht bezichtigte einige staatliche Veranstalter denn auch bereits einer „aggressiven Geschäftspolitik“, als es sich für eine Aufweichung des Monopols aussprach – zugunsten einiger Nichtregierungsorganisationen wie Welthungerhilfe oder Greenpeace, die eine gemeinnützige Lotterie aufbauen wollen. Wenn früher galt, dass die Wetteinsätze mit sich verschlechternder Konjunktur sanken, dann ist es jetzt eher umgekehrt: Je mieser die Jobperspektiven, desto mehr wird gewettet.

Ende der Achtzigerjahre waren die Berliner Zeitungen noch voll mit empörten Artikeln über die Spielhallen, die sich – wie heute die Internet-Cafés, in denen primär Gewaltspiele runtergeladen werden – über die proletarischen Viertel ausbreiteten. Damals dachte man über Extrabesteuerungen sowie eine Reduzierung der Daddelautomaten übers Baurecht nach und sprach von Spielsüchtigen. Der Höchstgewinn lag bei 100 Mark. Heute kann man an den Automaten tausende von Euro gewinnen. Neben den öden Spielhallen, die am Aussterben sind, gab es noch jede Menge türkische Sport- und Kulturvereine, wo die Männer Tag für Tag Karten spielten – ebenfalls um Geld. Auch diese „Cafés“ sind am Aussterben, weil die Männer heute als Arbeitslose nur noch so wenig zu verspielen haben, dass die Wirte nicht mehr davon leben können. Dafür rüsteten die Berliner Spielcasinos auf – oder eher ab, sie öffneten sich mit ihren Automaten dem Postproletariat und schafften den Schlipszwang ab. Sie werden vornehmlich von thailändischen Prostituierten, vietnamesischen Händlerinnen und arabischen Geschäftsleuten aufgesucht.

Die Türken eröffnen dagegen ein Sportwettenbüro nach dem anderen, auch die Albers-Familie mischt dabei mit. Man wettet dort auf alle möglichen Spiele, vom Fußball in Prag bis zum Basketball in Detroit. Daneben treibt es immer mehr Berliner Arbeitslose zu den Pferderennen nach Hoppegarten und Karlshorst oder in den Westen nach Mariendorf, wo der FR-Feuilletonchef Harry Nutt einst eine Zockerzeitung herausgab. Jetzt klärte er mich auf: Die Sportwetten sind eigentlich noch immer verboten, aber diese neuen Wettbüros fallen nicht ins Staatsmonopol, weil sie formal nur Wetten ins Ausland vermitteln. Aber demnächst werden alle diese Einschränkungen sowieso wegfallen.

Vielleicht schon heute, denn laut Terminplan soll an diesem Dienstag vor dem Bundesverfassungsgericht das Verbot der Vermittlung von Sportwetten durch private Anbieter verhandelt werden. HELMUT HÖGE