IM PRENZLAUER BERG
: Totalversagen

Sie verdienen unser Erbarmen, die geschundenen Seelen

In den ersten Januarwochen wird das Stadtbild des Prenzlauer Bergs durch Jogger geprägt. All die herrlichen Festmahlzeiten, die sich an der Hüfte angesetzt haben, sollen jetzt weggerannt werden. Man kann ihnen nicht entkommen, den Laufwütigen. Mütter joggen mit Sportkinderwagen durch den Mauerpark, ältere Männer rennen die Schönhauser Allee hinauf und wieder hinab, und im Jahn-Sportpark läuft der halbe Kiez eine Runde nach der anderen. Allerorts wird gerotzt, gehustet und gekeucht.

Bei genauerer Betrachtung dieser Laufwütigen ergreift mich oft Mitleid. Die meisten sind Anfänger, die sich wahrscheinlich zu Neujahr vorgenommen haben, ihr Leben radikal zu verändern. Sie quälen sich, schwabbeln durch die Straßen, ihre Köpfe sind hochrot angelaufen, ihre Augen quellen hervor und ihr röchelnder Atem klingt bedrohlich nach Herzinfarkt. Verbissen kämpfen sie um jeden Meter. Manch einer ist dabei zu ehrgeizig, läuft zu schnell an, bekommt Seitenstechen und kriecht nach nur wenigen Minuten gedemütigt in die warme Wohnstube zurück. Andere vergessen, dass sie jahrelang keinen Sport betrieben haben, und verknacksen sich nach wenigen Minuten den Fuß.

Es ist eine Tragödie, die sich da Jahr für Jahr auf den Straßen des Prenzlauer Bergs abspielt. Sie hatten sich die teuerste Laufkleidung besorgt, wollten endlich fit werden, schön aussehen und erfolgreich sein. Und dann geben sie, nach nur wenigen Tagen, entkräftet oder verletzt auf. Es ist die totale Niederlage, das vollkommene Fiasko – schon wieder hat man seinen inneren Schweinehund nicht besiegt.

In ein paar Monaten, wenn die Frühlingssonne die eingerosteten Glieder erwärmt, werden sie ihre Schmach vergessen haben, die verstaubte Laufkleidung aus dem Kleiderschrank zerren und abermals kläglich versagen. Sie verdienen unser Erbarmen, die geschundenen Läuferseelen des Prenzlauer Berges. ALEM GRABOVAC