Kolumne Unter Schmerzen: Mein eigener Mount Wilson
Jeder hat irgendwann und irgendwo seinen Berg zu erklimmen. So Beach Boy Brian Wilson und so auch ich.
A ls ich den Hügel hinaufstieg, der in der flachen Gegend, in der meine Eltern wohnen, tatsächlich als Berg gilt, musste ich an Brian Wilson denken.
Neulich hatte ich den Film über sein Leben sehen wollen, „Love and Mercy“ heißt er. Ich kam zu Fuß von der Arbeit, jede Bewegung zählt, und ging zufällig zur rechten Zeit an dem Kino vorbei, in dem der Film lief – und kaufte mir kurz entschlossen eine Karte. Aber kaum dass ich in der dritten Reihe in einem recht leeren Saal saß, fiel mir ein, dass ich noch einen Termin hatte.
Absagen wollte ich nicht, verschieben war unmöglich – und vom Film würde ich höchstens eine halbe Stunde sehen, wenn ich pünktlich sein wollte. Also eilte ich wieder hinaus. Ich verkaufte mein Ticket zu einem günstigeren Preis an eine Dame, die draußen auf ihre Begleitung wartete und fünf Minuten lang in ihrem Rucksack nach dem passenden Geld kramte, und war froh, rechtzeitig zur Physiotherapie zu kommen. Jede Hilfe zählt.
Aber das ist gar nicht die Geschichte, auf die ich hinauswill. Auf meinem Weg den weithin einzigen niederrheinischen Hügel hinauf musste ich daran denken, dass sich Brian Wilson in den siebziger Jahren – seine Hochphase war lange vorbei, seine Brüder hatten das Kommando übernommen und eine andere Art von kalifornischer Schwermut in die Musik gebracht, ohne an die früheren Erfolge anknüpfen zu können – endlich einem Psychologen anvertraute.
Der kurierte ihn von der Eigenart, sich im Schrank zu verstecken, wenn eine Entscheidung getroffen werden sollte; er kurierte ihn von seiner Koffeinsucht (Wilson soll täglich ganze Kannen getrunken haben) und der lange währenden Lethargie, in der das einstige Genie Tage, Wochen, Monate im Bett verbracht hatte.
Und schließlich sollte es einen Berg hinauf gehen. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit für den ängstlichen, behäbigen, unfitten Wilson. (Dass sein Psychologe, Eugene Landy, sich zu einer Bedrohung für Wilsons Gesundheit auswuchs, ist eine andere Geschichte, die in besagtem Film erzählt wird.)
Den Schmerz wegficken
Interessant ist, dass Wilson seine psychotischen Abgründe meist nur indirekt in seine Musik goss. In seinem Frühwerk ging es hauptsächlich um Sonne, Sommer, Strand, Mädchen und Autos – und ums Surfen. Nur eine leichte Wehmut schimmerte im Hintergrund – der musikalische Schmerz eines von seinem Vater geschlagenen Kindes. Für Ratschläge wie „Fuck the Pain Away“ (Peaches) war die Zeit eben noch nicht reif.
Fast zwanzig Jahre später, schon jenseits der lahmen und restverstrahlten siebziger Jahre, sollte der Beach Boy also seinen Berg erklimmen, den „Mt. Wilson“. Mein Berg, dachte ich, als ich ziemlich rasch und gleich beim ersten Versuch oben angekommen war, ist dagegen vielleicht doch eben nur: ein Hügel.
Ich zog die Schuhe aus, um den neu angelegten „Barfußpfad“ auszutesten, und summte ein anderes Lied, das ich morgens im Radio gehört hatte. „The miracle of love“, singt da Annie Lennox von den Eurythmics, die wahrscheinlich auch nicht von ungefähr so hießen, „will take away your pain.“ Na dann. Warte ich also auf ein Wunder. „Love and Mercy“, den Film über Brian Wilson, habe ich übrigens immer noch nicht gesehen.
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