: „Ich fühle mich in der Geschichte der Junkies zu Hause“
SOZIALARBEIT Nicola Blättner betreut seit fast zwei Jahrzehnten Abhängige beim Drogehilfeverein Fixpunkt. Die Berliner Drogenszene ist nicht nur älter geworden, sagt Blättner. Die Junkies konsumieren auch mehr Stoffe gleichzeitig. Im Schnitt stirbt pro Jahr einer ihrer Klienten. Damit klarzukommen ist nicht leicht. Aber Blättner hat gelernt, sich auch abzugrenzen
■ Der Mensch: Nicola Blättner, 43, stammt aus der Nähe von Bonn. Sie studierte Sozialarbeit und Sozialpädagogik auf Diplom an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie zunächst bei der Drogen- und Aidsberatungsstelle im Gesundheitsamt Tiergarten. Kurz darauf begann sie als Sozialarbeiterin beim Verein Fixpunkt. Sie hat zwei Kinder und wohnt in Lichtenrade.
■ Der Verein: Fixpunkt feiert Jubiläum: Vor 25 Jahren tat sich in der Berliner Aids-Hilfe eine Gruppe von vorwiegend Studenten zusammen, um ehrenamtlich Drogensozialarbeit zu machen. Sie verteilten Spritzen und betreuten die ersten Spritzenautomaten. Ein Jahr später gründeten sie mit Unterstützung der Aidshilfe den Verein. Heute beschäftigt Fixpunkt rund 25 Mitarbeiter, wird staatlich gefördert und hatte 2011 Ausgaben von 1,5 Millionen Euro.
■ Der Druckraum: Früher betrieb Fixpunkt einen Druckraum in der Dresdener Straße am Kottbusser Tor. Doch der wurde ihnen gekündigt. Seit einem Jahr gibt es nun den Druckraum in der Reichenberger Straße. Anfangs war der Zulauf deutlich schwächer, jetzt sind die Zahlen laut Fixpunkt steigend.
INTERVIEW ANTJE LANG-LENDORFF, FOTOS AMÉLIE LOSIER
taz: Nehmen Sie Drogen?
Nicola Blättner: Nein.
Gar nicht?
Ich habe mal geraucht. Das habe ich aber aufgegeben. Ganz früher habe ich auch mal probiert zu kiffen. Ab und zu trinke ich heute einen Schluck Alkohol. Das war’s dann aber auch.
Sie schlagen nicht unbedingt über die Stränge.
Mir ist es lieber, ich behalte den Überblick. Ich bin nicht der Typ, der alles Mögliche einfach mal ausprobiert, auch wenn er es nicht einschätzen kann.
Sie sind seit fast 20 Jahren als Sozialarbeiterin beim Drogenhilfeverein Fixpunkt. Was genau machen Sie?
Ich habe mit einer halben Stelle als Sozialarbeiterin bei Fixpunkt angefangen. Inzwischen bin ich Bereichsleiterin für die Sozialarbeit in den Kontaktläden in Neukölln, Kreuzberg und Spandau. Ich lege aber viel Wert darauf, auch weiterhin regelmäßig mit Klienten zu arbeiten.
Was passiert in den Kontaktläden?
Das ist wie ein offenes Wohnzimmer. Die Leute können sich dort aufhalten, im Internet surfen. Sie bekommen von uns ein Mittagessen, wenn sie möchten. Wir bieten lebenspraktische Hilfe an, man kann bei uns waschen, wir haben eine Kleiderkammer. Wir informieren über Hilfsangebote und vermitteln zu anderen Drogenhilfe-Einrichtungen. Außerdem beraten wir zum Beispiel auch bei Hartz-IV-Anträgen.
Fixpunkt ist bekannt dafür, frische Spritzen zu verteilen.
Die Gesundheitsförderung war ein Anliegen von Fixpunkt seit dem Beginn der Arbeit vor 25 Jahren. Die Klienten können bei uns ihre Spritzen gegen neue tauschen und andere Utensilien holen wie etwa Pfännchen zum Aufkochen des Stoffs, Filter, Alkoholtupfer. In Kreuzberg ist an den Kontaktladen ein Druckraum angeschlossen, wo die Besucher unter hygienischen Umständen und medizinischer Aufsicht auch Drogen konsumieren können. Unser neuestes Angebot sind Spritzen in Pink, Blau, Grün und Gelb. So werden sie nicht so leicht vertauscht, wenn Junkies gemeinsam konsumieren.
Als Sozialarbeiterin versuchen Sie, eine Beziehung zu den Abhängigen aufzubauen?
Ja, das steht neben der Gesundheitsförderung im Vordergrund. Für viele sind wir die erste Anlaufstelle in der Drogenhilfe. Die Klienten sollen sich wohlfühlen und Vertrauen fassen. Es ist sehr unterschiedlich, was Menschen dann brauchen. Meine Aufgabe sehe ich darin, dafür ein Gespür zu entwickeln. Manche wollen erst mal in Ruhe gelassen werden und kommen dann später mit ihrem Anliegen. Oder auch nicht. Andere wollen gleich angesprochen werden oder haben eine ganz konkrete Frage, sie suchen einen Entzugsplatz oder eine Übernachtungsmöglichkeit. Da können wir dann konkret helfen.
Muss man nicht mal Drogen genommen haben, um Junkies verstehen zu können?
Ich bin über die Jahre zu dem Schluss gekommen: Viel wichtiger als eigene Drogenerfahrungen ist, dass man sich in der Lebensgeschichte derer, die Drogen nehmen, irgendwie zu Hause fühlt. Dann kann man auch gute Drogenarbeit leisten.
Wie machen Sie das, sich in der Geschichte von Junkies zu Hause zu fühlen?
Nach meinem Diplom bin ich zunächst bei der Drogen- und Aidsberatungsstelle in Tiergarten gelandet und hatte da erstmals Kontakt zu Drogenabhängigen. Ich stellte fest, dass ich mich total heimisch in diesem Metier fühle. Rückblickend kann ich sagen, dass das mit meiner eigenen Lebensgeschichte zu tun hat. Meine Familie war suchtbelastet.
Inwiefern?
Es gab in meiner Familie Probleme mit Alkohol, nicht mit illegalen Drogen. Aber die Suchtmuster sind doch vergleichbar. Wenn man mit einem Süchtigen lebt, ist auch das Thema Koabhängigkeit da. So eine Familie funktioniert ja als System. Jeder hat seine Rolle. Oft schirmen die anderen Familienmitglieder den Betroffenen ab, damit nichts nach außen dringt. Auch nach innen übernimmt jeder eine Rolle, um die Sucht abzufangen.
Was war Ihre Rolle?
Ich habe schon als Kind Antennen dafür entwickelt, wie gerade die Stimmungslage war. Ich denke, das hilft mir heute bei der Arbeit. Wobei man nicht mit den Klienten die eigene Geschichten aufarbeiten kann. Das geht nicht.
Wie lange haben Sie im Schnitt Kontakt zu den Junkies?
Das ist unterschiedlich. Einige tauschen ihre Spritzen und verschwinden gleich wieder. Da ist der Kontakt erstmal begrenzt. Andere kenne ich seit 10 bis 15 Jahren. Viele nutzen uns regelmäßig. Sie erzählen von ihrem Alltag, essen bei uns. Wir sind ein Teil ihrer Tagesstruktur. Einen Mann, der früher heroinabhängig war, kenne ich seit fast 20 Jahren. Er wurde mit Methadon substituiert, konsumierte parallel aber auch Beruhigungsmittel. Er hatte zeitweilig kleptomanische Züge und handelte sich viele Gerichtstermine ein. Irgendwann hat er das in den Griff gekriegt. Heute ist er um die 60 Jahre alt und kommt ab und zu vorbei, um einen Kaffee zu trinken. Eigentlich hat er gar keinen Beratungsbedarf mehr. Aber er will zeigen, dass es ihm gut geht. Er hat sich mit der Substitution eingerichtet. Auch das kann ein Erfolg unserer Arbeit sein.
Haben Sie sich mit Klienten schon mal angefreundet?
Nein. Das war mir auch immer ein Anliegen, dass das nicht passiert. Die Grenzen verschwimmen in der niedrigschwelligen Drogenhilfe sowieso manchmal. Man kommt schnell in bestimmte Rollen, die des Kumpels oder der Mutter, je nachdem, wie die Bedürfnisse sind. Mir ist es wichtig, die Ebenen auseinanderzuhalten, weil mir die Vermischung nicht guttut. Das heißt nicht, dass ich nicht nah an ihnen dran sein möchte. Aber ich bin nicht ihre Freundin. Ich habe mein Privatleben, und da möchte ich dann auch meine Ruhe haben.
Treffen Sie manchmal Junkies auf der Straße?
Inzwischen weniger, weil ich nach Lichtenrade gezogen bin. Als ich noch in Kreuzberg und Neukölln gewohnt habe, liefen mir fast täglich Klienten über den Weg.
Sind die Treffpunkte der Drogenszene dieselben wie noch vor 20 Jahren?
Am Zoo ist nicht mehr viel los, dafür am Stuttgarter Platz. Am Kottbusser Tor trifft man sich nach wie vor. Vor zwei Jahren wanderte die Szene zum Hermannplatz, jetzt sind viele wieder am Kotti. Das geht pingpongmäßig hin und her, je nachdem, wo gerade ein größeres Polizeiaufgebot ist.
Wie hat sich die Szene sonst verändert?
Der größte Unterschied ist, dass es eigentlich keine reinen Junkies mehr gibt. Die meisten konsumieren nicht nur Heroin, sondern Alkohol, Tabletten, verschiedenste Suchtstoffe.
Warum ist das so?
Als ich einstieg in die Drogenhilfe, war es völlig unüblich, dass ein Junkie eine Bierdose in der Hand hatte. Früher gehörte Heroin zu einer bestimmten Subkultur. Ich erinnere mich an eine Frau aus dem linksalternativen Umfeld. Die erzählte, dass es da einfach irgendwann dran war, LSD auszuprobieren. Man habe Trips geschmissen, wie andere Leute Bier trinken. Und dann gab es irgendwann Heroin, und dann habe man das auch gemacht. Das war für mich eine ganz neue Welt. Viele von denen hatten auch eine gute Ausbildung und ein Berufsleben. Inzwischen ist die Zahl derer, die beruflich kaum qualifiziert sind und noch nie regelmäßig gearbeitet haben, relativ hoch. Viele unserer Besucher haben heute auch eine psychiatrische Auffälligkeit.
Inwiefern?
Wir haben viele Klienten mit Depressionen oder Psychosen. Das erzählen alle, die mit Drogenhilfe zu tun haben. Die Frage ist: War das früher auch so und wir haben das nur unter dem Thema Sucht subsumiert? Oder hat sich das tatsächlich verändert?
Gibt es heute mehr drogenabhängige Migranten als früher?
Es kommen mehr Menschen aus Osteuropa zu uns. Diese Gruppe mischt sich nicht mit der alteingesessenen Szene. Das ist immer wieder ein Problem. Da wird viel übereinander geschimpft. Wir von Fixpunkt bemühen uns, für alle Seiten offen zu sein. Sprachlich ist das nicht immer einfach. Im Kontaktladen in Kreuzberg gibt es zum Glück eine russischsprachige Hauswirtschafterin, die öffnet uns Türen.
Was war bislang Ihr schönstes Erlebnis in dem Job?
Oh, da gibt es viele. Wenn alte Bekannte im Kontaktladen sind und wir eine warme Atmosphäre hinkriegen, wenn sie mit einem Lächeln nach Hause gehen und gerne wiederkommen, ist das ein richtig gutes Gefühl.
Und die schlechten Momente?
Wenn es nicht gelingt, Aggressionen runterzukochen. Es kommt zum Glück selten vor, aber manchmal geraten die Besucher untereinander in Streit, beschimpfen sich oder uns und werden handgreiflich. Ich muss immer mal wieder jemanden rausschmeißen. Es passiert auch manchmal, dass etwas geklaut wird, beispielsweise ein Handy. Ich weiß ja, Abzocke gehört für viele zur Überlebensstrategie dazu. Trotzdem ist es für mich was anderes, ob man in einem Kaufhaus ein Handy einsteckt, also in einem anonymisierten Umfeld, oder im Kontaktladen. Es gibt welche, die haben trotz der Sucht bestimmte Werte, die sie hochhalten. Und andere, die hatten das nie oder sie sind im Laufe der Jahre verschüttet. Da werde ich ungehalten. Im Schnitt müssen wir zweimal im Jahr ein Hausverbot verhängen.
Es ist sicherlich auch schlimm, wenn Klienten sterben.
Natürlich. Es waren bestimmt 20, die seit meinem Berufseinstieg an den Folgen von HIV, Hepatitis oder an einer Überdosis starben. Also im Schnitt einer pro Jahr. Bei manchen hat es echt wehgetan. Einer, den ich 20 Jahre lang kannte, ist an den Folgen von Hepatitis C gestorben. Das hat mich richtig gerüttelt.
Wie erfahren Sie von Todesfällen?
Wenn jemand Hepatitis C hat, dann begleiten wir das über eine längere Zeit und wissen, dass es zu Ende geht. Öfters erzählen auch Besucher, dass jemand gestorben ist. Wobei die Überlebenschancen von Junkies heute deutlich besser sind als früher.
Wie kommt das?
Eine große Rolle spielt die Methadon-Substitution. Es gibt aber auch mehr Hilfsangebote. Fixpunkt hat beispielsweise Schulungen für Junkies gemacht, um zu erklären, wie sie reagieren sollten, wenn neben ihnen einer mit Überdosis umkippt. Früher waren viele unserer Besucher so zwischen 30 und 35. Inzwischen haben wir auch Leute Ende 50 oder Anfang 60. Deshalb beschäftigen wir uns auch mit altersbedingen Krankheiten, mit Altersdiabetes, Weitsichtigkeit. Das hat auch was ganz Rührendes. Wir sind ja gemeinsam älter geworden, packen dann gemeinsam unsere Lesebrillen aus. Das sind schöne Momente.
Sie haben viel mit hoffnungslosen Schicksalen zu tun. Wie stecken Sie das persönlich weg?
Es ist wichtig, etwas zu haben, wo man Kraft schöpfen kann. Dass man Strategien entwickelt, um die Arbeit nicht mit nach Hause zu nehmen. Wir sitzen ja manchmal stundenlang mit den Besuchern zusammen. Wenn man da am Feierabend keinen inneren Abstand schafft, frisst einen das über die Jahre auf.
Was sind Ihre Strategien, um abzuschalten?
Ich habe zwei Kinder. Wenn ich nach Hause komme und in deren Alltag eintauche, hilft mir das ungemein. Nachdem ich nach Lichtenrade umgezogen bin, habe ich es genossen, von Kreuzberg oder Neukölln dorthin zu fahren. Als ich noch rauchte, habe ich die Scheibe runterkurbelt, eine gequalmt. Das tat gut. Nach der Fahrt habe ich meist schon einen inneren Abstand.
Mit dem Umzug nach Lichtenrade wollten Sie sich damit auch stärker von der Arbeit abgrenzen?
Das war nicht der ausschlaggebende Grund, aber es spielte schon eine Rolle. Wenn ich heute samstags vor die Tür trete, treffe ich keine Klienten. Das ist schon bequemer so.
Sie machen den Job seit fast zwei Jahrzehnten. Was hat die Konfrontation mit dem Elend für Ihr eigenes Leben für eine Funktion?
Dass ich den Job so lange mache, hat auch viel mit dem Träger zu tun. Ich konnte mich bei Fixpunkt immer weiterentwickeln. Ich konnte Auszeiten nehmen für eine große Reise, für die Kinder. Es gibt in dem Job immer neue Herausforderungen.
Aber Sie könnten es durchaus auch harmloser haben und beispielweise Hausaufgabenhilfe in Lichtenrade anbieten. Warum arbeiten Sie lieber mit Junkies?
Ich bin eine Zugezogene, ich komme aus einem Dorf bei Bonn. Mit 19 Jahren zog ich nach Berlin und habe überhaupt erst mal verstanden, was es alles gibt. Für mich war es ein großes Aha-Erlebnis, mich dieser Lebenswelt nahezufühlen, die ich vorher nicht kannte. Das hatte eine große Anziehungskraft auf mich. Wobei ich mich gar nicht so auf das Elend unserer Besucher fokussieren will. Sicher, es gibt viele schlimme Geschichten. Doch ein Bemühen von Fixpunkt ist, nach den Ressourcen zu gucken. Die gibt es ja. Viele von denen haben jahrelang überlebt, das ist auch schon eine Kompetenz. Sie haben sich beispielsweise nicht infiziert und sind ziemlich gesund. Oder sie haben es geschafft, einen gewissen Abstand zur Szene zu halten. Das ist auch schon eine Leistung.
Ihre Kinder sind 5 und 8 Jahre alt. Wie werden Sie mit ihnen über Drogen reden?
Das ist die Frage. Da habe ich dann natürlich keine professionelle Distanz. Ich hoffe, ich schaffe es, eine gewisse Gelassenheit zu behalten. Dinge auszuprobieren gehört zur Jugend einfach dazu. Und trotzdem will ich den Punkt erwischen, falls da was verrutscht. Aber so weit kommt es hoffentlich gar nicht.