Tage des Zorns

Dass man sich auch in Deutschland empören könnte, hatte Stéphane Hessel nicht erwartet. Mit Sophia Schmid und Veronika Scheidl sprach der ehemalige Résistance-Kämpfer und Diplomat über die Oligarchisierung der Demokratie, die historische Bedeutung von Mobiltelefonen und den Optimismus als realistisches Prinzip

Sophia Schmid und Veronika Scheidl im Gespräch mit Stéphane Hessel

Herr Hessel, als Sie Empört Euch!, Ihren Aufruf zum Widerstand, verfassten, rechneten Sie da damit, dass er so viel Widerhall über die Grenzen Frankreichs hinaus finden würde?

Stéphane Hessel: Nein, gerade in Deutschland beispielsweise habe ich nicht damit gerechnet. Als mein Buch aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt wurde, sagte ich zu meinem Verleger: „Das wird in Deutschland kein Erfolg, dort wohnen disziplinierte Bürger, die wollen nicht aufbegehren.“ Aber mein Verleger meinte, dass es auch in Deutschland ein tief sitzendes Unbehagen gebe an einer Regierung, die man zwar gewählt hat, von der man sich aber nicht mehr recht vertreten fühlt. Und es zeigte sich, er hatte Recht.

Aber woher kommt plötzlich dieses Unbehagen auch in Ländern, die ja, wie Sie selbst sagen, demokratisch gewählte Regierungen haben? Warum fühlen sich viele Menschen auf einmal nicht mehr repräsentiert, nachdem sie doch jahrzehntelang ganz zufrieden waren? Das ist doch zunächst einfach merkwürdig, denn materiell geht es uns so gut wie nie.

Dagegen steht die Mehrzahl der Menschen, die zwar irgendwie über die Runden kommt, aber kein wirklich gutes Leben führt. Es gibt immer noch eine schlimme Kluft zwischen den ganz Reichen, die durch Spekulationen Riesenvermögen anhäufen, und den ganz Armen, die ihr Leben in den Vorort-Siedlungen unserer Metropolen fristen. Diese soziale Spaltung ist inakzeptabel. Und wenn wir jetzt sagen, wir in Europa leben doch in demokratischen Staaten, dann muss man fragen: Wie weit her ist es mit der Demokratie? Leben wir nicht in gewisser Weise zugleich in einer Oligarchie, in der in Wirklichkeit kleine Gruppen die politische, finanzielle, wirtschaftliche Macht haben?

„Natürlich ist es infam, Träumer als Dummköpfe darzustellen“

Der Philosoph Richard David Precht diagnostizierte in einem Gespräch mit Ihnen eine allgemeine „Utopie der Utopielosigkeit“ in Deutschland. Und er wirft den Medien pauschal vor, neue Ideen und Utopien von vornherein in Frage zu stellen und damit Personen wie Sie, die Träume haben, lächerlich zu machen. Wörtlich: „Es gibt eine ganze Medienindustrie, die davon lebt, jeden Ansatz von Utopie zu zerstören.“ Sehen Sie das ähnlich?

Natürlich ist es infam, Träumer, die sich eine schönere Zukunft ausmalen, als Dummköpfe hinzustellen. Manche Medien tun das, weil es leicht ist, jemanden lächerlich zu machen, der Hoffnung verbreitet, obwohl die Tatsachen doch so düster aussehen. Daher ist es so wichtig, über die heutige Lage nicht nur zu reden, sondern sie wirklich zu analysieren und ernsthafte Konsequenzen daraus zu ziehen.

Aber ist es nicht so, dass der Protest von ein paar Einzelnen oft nutzlos erscheint? Wie kann man die eigene, persönliche Verantwortung und das weltweite, kaum beherrschbar wirkende Krisenszenario in eine lebbare Balance bringen, in ein Verhältnis, das nicht einfach nur entmutigt und verzweifeln lässt?

Sie sollten sich nicht entmutigen lassen. Solche Prozesse brauchen ihre Zeit, schnelle Resultate sind nicht zu erwarten. Sie sollten auch die Rolle der Parteien in den politischen Willensbildungsprozessen nicht ignorieren, sondern für Ihre Zwecke nutzen. Parteien sind ein wichtiger Hebel, und es ist unsere Schuldigkeit als demokratische Bürger, diejenigen Parteien, an die wir glauben, zu unterstützen. Gerade die jüngeren Generationen in Europa schätzen die Parteien gering, werfen ihnen Mangel an Mut vor. Aber woher kommt dieser Mangel an Mut? Aus Mangel an Unterstützung durch Parteimitglieder, die die Reform, den Wandel, den Umbruch wollen. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns nicht nur in Gruppen organisieren, sondern dass diese Gruppen auch solche Parteien unterstützen, die ihren Ideen und Zielen nahestehen. Für mich sind das die Grünen in Frankreich.

Aufschlussreich ist, dass die Empörung in Deutschland im Gegensatz zu den Protesten in anderen Ländern in erster Linie von Menschen eher mittleren und höheren Alters getragen wird. Das heißt doch, dass die Jugend in Deutschland sich bislang nicht so mitreißen ließ wie zum Beispiel in Frankreich oder Spanien.

Man muss sich verbinden, zum Beispiel in NGOs, die sich für etwas Besonderes einsetzen, nicht nur für den Schönefelder Flughafen in Berlin oder für den ursprünglichen Bahnhof in Stuttgart, sondern für wirklich große Probleme wie Armut oder Schaffung einer solidarischen Wirtschaft. Allerdings befindet sich die deutsche Jugend in einer ganz besonderen Lage, denn sie muss noch die Spaltung zwischen Ost und West überwinden. Das ist schwieriger als man denkt, und es macht die Situation der deutschen Jugendlichen unklarer, unübersichtlicher als etwa die ihrer französischen Altersgenossen. Daher möchte ich der deutschen Jugend sagen: „Ihr lebt in dem Staat, der Europa am meisten braucht, denn nur durch ein gemeinsames Aufgehen in Europa kann Deutschland seine innere Spaltung überwinden. Daher ist es so wichtig, dass die deutsche Jugend sich empören, und zwar gemeinsam empören kann, um ein europäisches Bewusstsein zu entwickeln. Schöpft eure Kraft als Europäer daraus, dass Deutschland, Gott sei Dank, wirtschaftlich und auch sozial wieder eine der stärksten Regionen Europas geworden ist, was übrigens eine große Leistung der deutschen Regierungen darstellt!“ Gerade weil Deutschland eine europapolitisch so zentrale Rolle spielt, kann die deutsche Jugend besonders dazu beitragen, dass sich unser Europagefühl als ein Gefühl der Würde, der Ehre, der Menschenrechte entwickelt, das ein tragendes Bild für die ganze Welt werden kann.

Sie sprechen von Europa in einer idealisierend anmutenden Weise. Wie groß die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Unterschiede sind, wird doch gerade jetzt in der aktuellen Krise wieder deutlich.

Natürlich gibt es Unterschiede, aber diese Vielfalt macht eine Stärke Europas aus, sie zeigt das Spektrum möglicher Gesellschafts- und Lebensformen. Aber wichtiger als das, was uns unterscheidet, ist, was wir gemeinsam haben: Es ist unsere Verwurzelung in der Kultur des römischen Reiches, im Christentum, in der Aufklärung. Genauso haben die großen Revolutionen unsere gemeinsame Geschichte geprägt und natürlich das schlimme zwanzigste Jahrhundert, das aber nicht nur die beiden Weltkriege umfasst, sondern auch zum Beispiel die Verträge von Rom, die 1957 die Grundlage der heutigen EU legten. Was bedeutet es, Europäer zu sein? Was bedeutet es, Deutscher und Europäer zugleich zu sein? Es bedeutet, Teil dieser Geschichte zu sein, einer Geschichte, zu der René Descartes und Immanuel Kant genauso gehören wie Karl Marx. Das ist die Basis, auf der man ein Europa aufbauen kann, das wirklich tragfähige Werte hat.

„So viele wir auch sind, unsere Probleme sind uns gemeinsam“

Nun haben Sie ja nicht nur Europa, sondern die ganze Welt im Blick. Wie können sich über sieben Milliarden Individuen auf einen gemeinsamen Weg einigen, wenn bereits die einzelnen Staaten so sehr mit sich selbst beschäftigt sind, dass sie nicht mal fähig sind, auf einer Klimakonferenz ein paar belastbare Ergebnisse zu erzielen?

Wenn es sieben Milliarden Menschen gibt, von denen sich jeder individuell betätigen will, ist es nicht leicht, sie zusammenzubringen, um an einer gemeinsamen Zukunft mitzuwirken. Aber es ist nicht unmöglich. So viele wir auch sind, unsere Probleme sind uns gemeinsam, und darüber müssen wir uns verständigen. Das ist heute viel leichter als im vergangenen Jahrhundert. Wir haben jetzt die neuen Medien, diese wunderbaren Maschinen, um in Sekundenschnelle miteinander in Kontakt zu treten. So viele Völker kannten sich bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht einmal, sie lebten abgeschottet voneinander. Jetzt kennen sie enorm viel von der Welt, und das kann sie zunächst einmal unglücklich machen, denn ihnen wird klar, dass andere so viel mehr besitzen – sie empören sich, stellen fest, dass es so nicht weitergeht. Und sie haben heute so viele Möglichkeiten, um sich zusammenzutun und gemeinsam für eine bessere Zukunft zu kämpfen.

Sie haben einmal gesagt: „Wenn ein Mensch glücklich ist, dann empört er sich nicht mehr.“ Waren Sie jemals glücklich in Ihrem Leben?

Oh ja! Empörung darf nicht Verzweiflung bedeuten, ganz im Gegenteil. Man empört sich, weil man fühlt, dass sich das Glückliche, das in einem lebt, auf andere übertragen lässt. Meine Mutter hat einmal etwas sehr Entscheidendes zu mir gesagt: „Du musst glücklich sein, um andere glücklich zu machen!“ Wer mich sonst beeinflusst und geprägt hat? Es waren zwei oder drei Frauen, die in meinem Leben eine große Rolle gespielt haben, vor allem natürlich meine jetzige Frau, die mich alten Kerl immer noch unterstützt. Wenn ich auf die Politik schaue, dann war für mich als Franzosen Charles de Gaulle eine sehr wichtige Figur, auch Pierre Mendès-France, der in den Fünfzigerjahren Minister und Ministerpräsident war; heute ist der sozialistische Europaabgeordnete Michel Rocard mir sehr wichtig.

Im Ihrem Nachfolgebuch „Empörung – Meine Bilanz“ schreiben Sie, dass Sie die Hoffnung nicht aufgeben, die menschlichen Gesellschaften könnten sich wandeln. Sie wurden in ein KZ verschleppt; man hat sie gefoltert. Sie konnten schließlich aus einem Zug, der Sie nach Bergen-Belsen bringen sollte, fliehen. Verliert bei einer solchen Biografie nicht jeder Optimismus seine Grundlage?

Im Gegenteil, mein Optimismus ist gerechtfertigt. Um 1937, als ich so alt war wie Sie jetzt, sah die Welt schrecklich und gefährlich aus; der Krieg wurde vorbereitet, Faschismus und Stalinismus regierten in großen Teilen Europas. Aber all das wurde überwunden. Wir leben jetzt in einer um einiges friedlicheren Welt. Bei allem Schlimmen, das es noch gibt, ist mein Optimismus gegenüber dem Menschengeschlecht völlig gerechtfertigt. Der Mensch hat immer die Möglichkeit, vorwärts zu gehen. Alles, was die Menschen für wünschenswert halten, wird schließlich wahr. Das ist der Grund meines Optimismus. Voilà.

Das Interview in ungekürzter Form ist zu lesen im gerade erschienenen Buch von Bernhard Pörksen und Wolfgang Krischke (Hrsg.): „Die gehetzte Politik. Die neue Macht der Medien und Märkte“, Köln, Herbert von Halem Verlag 2013.