„Leseunterricht in der fünften Klasse“

Jeder Schüler braucht seinen individuellen Förderplan, sagt der Leiter der Iglu-Studie, Professor Wilfried Bos

taz: Bei der Pisa-Studie liegt Deutschland unter dem OECD-Durchschnitt. Warum sind die Grundschüler fitter als die Fünfzehnjährigen?

Wilfried Bos: In der Grundschule werden Kinder noch individueller gefördert als auf den weiterführenden Schulen. Die Lehrer wissen, dass sie das Kind nicht loswerden können, indem sie es sitzen lassen oder auf eine niedrigere Schulform schicken können. Also bemühen sie sich mehr um die Einzelnen.

Jede zweite Schulempfehlung in der Grundschule ist falsch. Wie passiert so was?

So dramatisch ist die Situation nicht: Die Besten kommen auf das Gymnasium, die Schlechtesten auf die Hauptschule. In der Mitte gibt es Überlappungen, das ist ganz normal.

Aber Kinder gebildeter Eltern haben bei gleicher Intelligenz eine dreimal so große Chance, eine Empfehlung fürs Gymnasium zu erhalten als Kinder aus unteren Schichten.

Der Hintergrund spielt natürlich eine Rolle. Ich finde die Entscheidung der Lehrer oft nachvollziehbar. Bei dem Sohn vom Chefarzt erwarten sie mehr Unterstützung von zu Hause als –nehmen wir mal das Beispiel – bei einem Kind einer türkischen Putzfrau.

Wie kann man dieser Entwicklung entgegenwirken?

Die Einrichtung von Ganztagsschulen kann dabei helfen. Hier wird den Schülern eine Lernsituation geboten, die sie zu Hause eventuell nicht haben.

Wie lässt sich verhindern, dass die Schülerleistungen ab der Vierten abfallen?

Der Unterricht muss besser werden, wir brauchen mehr individuelle Förderung. Ein Drittel der Kinder in der fünften Klasse kann nicht gut lesen, ich verstehe nicht, warum da keine Konsequenzen daraus gezogen werden: Wir brauchen Leseunterricht in der fünften und sechsten Klasse. Es muss ein individueller Förderplan entstehen.

Was halten Sie davon, Kinder länger zusammen auf eine Schule gehen zu lassen?

Ich finde die Diskussion überflüssig wie einen Kropf. Es gibt momentan keine Mehrheiten für eine Auflösung des dreigliedrigen Schulsystems. Die Forderung danach ist außerdem die einfachste Art, Misserfolge nach außen zu verlagern. Wir müssen die Durchlässigkeit nach oben erhöhen: In Baden-Württemberg zum Beispiel machen viele derjenigen, die nach der Grundschule falsch sortiert wurden, ihr Abitur nach. Ich bin kein Anhänger des gegliederten Systems. Wir haben aber diese Grabenkämpfe 30 Jahre geführt und sie haben nichts gebracht. INTERVIEW: NATALIE WIESMANN