Herne ist wieder aus den Fugen

Vor 30 Jahren wurden sie erfunden. Heute hofft man auf einen Generationenwechsel: Tage alter Musik in Herne

Der Name klingt nach Fleißarbeit in staubigen Archiven und klammen Fingern an gebrechlichen Originalinstrumenten: Die „Tage Alter Musik“ in Herne sind mit ihrem braven Namen ein bisschen gestraft. Natürlich hätte vor 30 Jahren, als das Festival erfunden und getauft wurde, niemand gedacht, dass sich die mutige Initiative der Stadt etablieren könnte. Dass das kleine Nischen-Festival mithilfe des WDR so in die Höhe und Breite wachsen würde, dass ihm der Titel heute nicht mehr passen will.

Die Alte Musik ist zwar noch immer Startpunkt und Endhaltestelle des Programm-Fahrplans, doch locken Exkursionen in unbekanntes Gelände und Experimente in dünner Höhenluft. Im Programmbuch ist gar von „kreativen Karambolagen“ die Rede. Doch mit postmoderner Cocktail-Plörre und nachfolgendem Beliebigkeits-Kater will das Motto „Grenzgänge“ nicht verwechselt werden. „Mit Crossover haben wir nichts zu tun. Brüche und Mischungen ergeben sich aus Widersprüchen und Krisen der Stil-Epochen heraus und vor allem aus der Musik selbst“, sagt der künstlerische Leiter des Festivals, Richard Lorber.

Es geht in Herne also nicht um das statische Gegenüberstellen von alt und neu oder um zugespitzte Kontraste von ernst und heiter, sondern um einen flüssigen Austausch der musikalischen Sphären. Natürlich erhofft man sich neben der Zustimmung der treuen Stammkundschaft einen Generationenwechsel, eine Verjüngung des Publikums. Tatsächlich stehen gerade in der Alten Musik die Chancen hierfür gar nicht schlecht: Die ständig wachsende „Szene“ ist jung, der Spezialisten-Nachwuchs noch jünger. Einzig die Alte Musik in der insgesamt krisenhaften Klassik-Branche hat noch Aufwind zu melden.

Für den Erfolg des Festivals würde man Experimente also gar nicht unbedingt brauchen. Neben dem dramaturgischen Ehrgeiz der Festivalmacher sind es aber vor allem die eingeladenen Musiker selbst, die „Grenzgänge“-Konzepte schon längst in der Tasche haben und nur darauf warten, auf die Reise zu gehen. So wird im Konzert „Vivadirland“ venezianischer Barock mit Flötenklängen keltischen Ursprungs bekannt gemacht und Vivaldis Violinen-Kapriolen auf Fiddle-Traditionen zurückgeführt. Zwei Meta-Melodrammi reflektieren das schwierige Genre „Oper“: Domenico Scarlattis „La Dirindina“ und Peter Eötvös‘ „Radames“ – hier wird diesmal Scarlattis Alte Musik mit dem modernen Instrumentarium von Eötvös Kammeroper gespielt, was durchaus als leichte Selbstironie eines Festivals zu verstehen ist, das in der Tradition der authentischen Aufführungspraxis steht.

„Aus den Fugen“ thematisiert eine kreative Sackgasse kunstvoller Instrumentalmusik im späten 17. Jahrhundert, „A voce sola“ bringt durch improvisatorische Techniken der damaligen Zeit die Grenzen zwischen Interpret und Komponist zum Verschwinden, Franz von Suppés „Die schöne Galathée“ auf Originalinstrumenten wird der guten alten Tante Operette wohl tüchtig einheizen. Zwei neue Spielstätten, die Flottmannhallen und die Akademie Mont-Cenis werden sichtbar den Aktionsradius vergrößern. Die insgesamt elf Konzerte werden zudem von einem Symposium und der traditionellen Musikinstrumenten- Messe flankiert. REGINE MÜLLER

9. bis 13. November 2005Infos: 02323-162839