Sonne, Twitter und Powernap
: News oder Kuckuck

Zumutung

von Anja Maier

Geht es Ihnen vielleicht auch so? Ich kann nicht mehr schlafen. Den ganzen Winter über, eigentlich auch im Frühjahr und im Herbst wünsche ich mir diese ellenlangen Mittsommertage und die kurzen Nächte herbei. Ich winsele um ein wenig Sonne, ein paar Vogelstimmen, etwas Blätterrauschen in der lauen Nacht. Und dann isses so weit, und ich drehe durch vor Müdigkeit.

Erst heute Morgen ließ es sich ein sehr früher Kuckuck angelegen sein, mir unmittelbar vor meinem Fenster meine verbleibenden Lebensjahre vorzuzählen. Was soll ich sagen? Diese Erde wird mich noch eine lange, eine sehr lange Zeit tragen.

Aber es war 4.45 Uhr, und der Kollege Kuckuck hatte offenbar den Ehrgeiz, von den frühen Vögeln ein besonders früher zu sein. Vielen Dank dafür. Und vielen Dank auch an die anderen Lärm­emittenten, die meinen, morgens ihre Hupe ausprobieren zu müssen oder auf menschenleerer Straße ihre Bremsen mal kräftig bremsen zu lassen.

Und so kommt es, dass ich mich im Grauen des Morgens noch ein wenig hin und her wälze, etwas untertourigen Schlaf abfasse, um schließlich um halb sieben meine Beine aus dem Bett zu schwenken und völlig übermüdet in den nächsten, perfekt anmutenden Sommertag zu wanken.

Während das Teewasser heiß wird, starte ich meine digitalen Medien. Facebook, E-Mails, Twitter –mein Gott, was habe ich eigentlich früher morgens so getrieben, als noch nicht die Klicks, die Likes, die Retweets und die Kommentare aufgelaufen waren?

Möglicherweise habe ich ein gepflegtes Loch in die Luft geguckt oder ausgiebig Zahn­hygiene betrieben. Heute hingegen schaue ich rasch nach, ob jemand meinen pfiffigen Plasberg-Tweet von gestern Nacht gewürdigt hat. Und dann kommt auf Facebook mein ganz persönlicher Morgenhorror: der Polizeibericht.

„Das geschah gestern Nacht“ lautet die im Grunde harmlose Überschrift. Leider geht es da nicht um Partys des Berliner Easy­jetsets oder eine Theaterpremiere. Nein, „gestern Nacht“, das bedeutet eigentlich immer Mord und Totschlag.

Eine weibliche Leiche wurde im Park gefunden. Zwei Familien sind mit Macheten übereinander hergefallen.

Ein Kind wird vermisst. Eine Rentnerin wurde in ihrer Wohnung vergewaltigt. Derlei Nachrichten halten online-affine Qualitätsmedien für mich bereit.

Die Frage ist, ob ich für derlei bereit bin. Eher nein, würde ich sagen. Denn was sagen mir die Geschehnisse der letzten Nacht? Doch nur, dass ich mir nicht so sicher sein sollte in meinem Schlaf. Dass da draußen das Böse umgeht, weshalb es möglicherweise eine gute Idee wäre, das Schlafzimmerfenster lieber nicht mehr zu kippen.

Diese Während-du-schläfst-News knabbern Tag für Tag jenes Restvertrauen weg, das sich bewahren muss, wer nicht verrückt werden möchte in einer Stadt, in der der Firnis der Normalität an manchen Tagen nur noch sehr dünn ist.

Irgendwann sollten alle mal pennen dürfen. Eine kleine Auszeit nehmen, um den Wahnsinn der Metropole aushalten zu können.

Aber selbst dieser Powernap der Angst ist mittlerweile digital abgeschafft. Dürfte ich wählen –News oder Kuckuck –, ich würde doch lieber den Kuckuck nehmen. Zur Not auch auf meinem Nachttisch.

DIE FÜNFTAGEVORSCHAU | KOLUMNE@TAZ.DE

Donnerstag

Margarete Stokowski

Luft und Liebe

Freitag

Heiko Werning

Tier und Wir

Montag

Barbara Dribbusch

Später

Dienstag

Sonja Vogel

German Angst

Mittwoch

Martin Reichert

Erwachsen