„Sie taten, was alle gern getan hätten“

Die Historikerin Marion Detjen hat die Geschichte der Fluchthelfer dokumentiert. 16 Jahre nach dem Mauerfall sei es an der Zeit, dass herausragende Fluchthelfer geehrt werden. Ihr Image leidet bis heute unter der angeblichen Ganovengeschichte

INTERVIEW PHILIPP GESSLER

taz: Frau Detjen, Sie haben die erste Monographie über die Fluchthilfe nach dem Mauerbau 1961 geschrieben: Ist es ein Skandal, dass kein Fluchthelfer bis heute öffentlich geehrt wurde?

Marion Detjen: In gewisser Weise passt dies zu den Persönlichkeiten. Das sind außergewöhnliche Biografien, zum Teil Außenseiter, die nie Ehrungen bekommen haben. „Skandal“, das ist immer ein großes Wort. Aber es wäre schon an der Zeit, dass zumindest einige der herausragenden Persönlichkeiten in irgendeiner Weise eine öffentliche Ehrung erfahren.

Wie erklären Sie sich die doch ziemlich überraschende Tatsache, dass kein Fluchthelfer für seine Taten öffentlich geehrt wurde?

Wahrscheinlich, weil das Thema insgesamt politisch zu umstritten ist und noch zu sehr assoziiert wird mit den Schattenseiten der Fluchthilfe in den 70er-/80er-Jahren, mit den anrüchigen Milieus, in denen Fluchthelfer sich dann später auch bewegt haben. Die frühen Fluchthelfer haben auch nie von sich aus den Versuch gemacht, dieses Schweigen zu überwinden.

Sie sprechen in Ihrem Buch von einer „Heldenzeit“. Sind die Fluchthelfer, zumindest in der frühen Zeit, für Sie Helden?

Ich habe den Begriff „Heldenzeit“ in Anführungsstriche gesetzt, als eine Art Ausnahmezeit unmittelbar nach dem Mauerbau, als die Politik ohnmächtig schien. Die studentischen Fluchthelfer der ersten Stunde hatten die Zeit, die Ressourcen, die Kontakte und den Idealismus, um die Mauer zu überwinden, während alle anderen im bürgerlichen Leben verhaftet waren, mit Kindern, mit Beruf, mit Arbeit, und sich solche wilden Aktionen gar nicht leisten konnten, obwohl sie sie moralisch unterstützten. Die frühen Fluchthelfer waren „Helden“, weil sie das taten, was alle gern getan hätten, aber nicht tun konnten.

Für die Öffentlichkeit oder für Sie?

Für die damalige Öffentlichkeit. Aber für mich … Helden? Es gibt eine Reihe ehemaliger Fluchthelfer, die ich selbst sehr mag und bewundere.

Warum ist dieses Thema „Fluchthilfe“ so lange aus der Öffentlichkeit, ja auch aus der Geschichts- oder Politikwissenschaft verschwunden?

Weil es sehr schwierig ist, mit den Unsicherheiten der Bewertung umzugehen, die mit diesem Thema verknüpft sind – etwa die Bewertung der Motive der Flüchtlinge, die werden ja zum Teil immer noch diskreditiert als Wirtschaftsflüchtlinge. Dann die Rolle der Fluchtbewegung ganz grundsätzlich: Welchen Anteil hatte sie am Zusammenbruch der DDR? Wie verhielt sie sich zu der eher reformorientierten Opposition in der DDR? Inwieweit war nicht nur das Regime der DDR unrechtmäßig, sondern vielleicht der ganze Staat? Dies sind alles Fragen, bei denen immer noch nicht genug Abstand da ist, um sie nüchtern zu klären. Das sind Operationen am lebendigen Leib, die wehtun. Da muss erst eine jüngere Generation kommen, um sich an solche Themen heranzutrauen.

Sie beschreiben, wie es der Desinformationsabteilung der Stasi gelang, ab einem gewissen Zeitpunkt Fluchthelfer mit Hilfe von westlichen Medien zu diskreditieren. Wie konnte das so leicht gelingen? Musste da nicht vorher schon eine ähnliche Grundstimmung in Westdeutschland da sein?

Da spielten die Eigengesetzlichkeiten der westlichen Medien und ihre Entwicklung eine große Rolle. Zunächst bestand ja Anfang der 60er-Jahre in den Medien ein Schweigekonsens. Um die Fluchthelfer und die Fluchtwege zu schützen, schrieb man nicht über sie. Tragischerweise wurde dieser Konsens von den Fluchthelfern selbst zum ersten Mal gebrochen, weil sie, verzweifelt auf der Suche nach Geld, ihre Geschichten an die Presse verkauft haben. Gerade die Bildmedien waren vor allem am Sensationsgehalt dieser Geschichten interessiert. Da konnte es leicht passieren, dass die so genannten Heldengeschichten umschlugen in angebliche Verbrecher- oder Ganovengeschichten. Die Kommerzialisierung der Fluchthilfe, die ja in gewisser Weise wegen der steigenden Kosten zwangsläufig war, war natürlich sehr hilfreich, um die Fluchthilfe insgesamt zu diskreditieren.

War es ein Sündenfall, dass sich die Fluchthilfe kommerzialisierte – oder eine schlichte Notwendigkeit, weil man Geld brauchte?

Die kleinen Geschäftsleute unter den Fluchthelfern hatten nicht die Skrupel, die die Studenten hatten, wenn sie Geld nahmen. Dann aber wurden auch bei diesen die finanziellen Zwänge immer drückender. Zunächst versuchte man, die Kosten über private Spenden abzudecken. Es gab Zahlungen aus den Geheimfonds des Gesamtdeutschen Ministeriums – zusammen mit Pressehonoraren und freiwilligen Zahlungen der Flüchtlinge. Bei der Girrmann-Gruppe war es irgendwann so, dass sie mit über 100.000 Mark verschuldet war. Je drückender diese Zwänge wurden, desto mehr zogen sich die skrupulösen, die idealistischen Fluchthelfer zurück und überließen das Feld Helfern, die eben weniger Skrupel hatten, auch wenn manche durchaus auch politischen Widerstand leisten wollten. Aber deren politische Motive waren dann so stark, dass darüber das konkrete Schicksal des Flüchtlings und die Risiken manchmal vergessen wurden.

Sie schreiben: Zumindest in einer kurzen Phase während der Flucht waren die Flüchtlinge total abhängig von ihren Helfern, in gewisser Weise hatte der Fluchthelfer Macht über den Flüchtling. Wurde gelegentlich auch diese Macht missbraucht?

Es gab ganz vereinzelt in den 70er- und 80er-Jahren Fluchthelfer, die wirklich Verbrechertypen waren, die auch hier im Westen dann strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden sind. Aber generell war der Flüchtling immer, wenn die Flucht gut ging, sehr, sehr dankbar. Auch die kommerziellen Fluchthelfer der 70er-Jahre haben zu den Flüchtlingen, bei denen die Flucht glückte, noch heute gute Kontakte und freundschaftliche Beziehungen. Anders bei den Flüchtlingen, bei denen die Flucht schief ging, die im Gefängnis landeten: Wenn die irgendwie den Verdacht bekamen, dass bei den Fluchthelfern andere Motive als nur die reine humanitäre Hilfe im Spiel waren, konnten die in den DDR-Gefängnissen sehr leicht aufgebracht werden gegen die Fluchthelfer im Westen.

Eines Ihrer Themen ist das stetige Wechselspiel zwischen Politik und Fluchthilfe. Welche Rolle spielte die teilweise Sympathie mancher 68er für das sozialistische Projekt DDR? Hat diese Sympathie später die Fluchthilfe immer mehr erschwert oder diskreditiert?

Diskreditiert hat es die Fluchthilfe bestimmt, aber auch die Entspannungspolitiker wussten zu allen Zeiten, dass die Flüchtlinge das Recht der Bundesrepublik auf ihrer Seite hatten. Das Grundgesetz schützte die Fluchthilfe, man konnte sie nicht verbieten, weder die kommerzielle noch die politisch missliebige oder den Missbrauch der Transitwege. Aber es war sicherlich so, dass ab Mitte der 70er-Jahre die gesamte westdeutsche Öffentlichkeit und Politik gegen die Fluchthilfe aufgestellt war. Es wurde versucht, zumindest die Delikte möglichst konsequent zu verfolgen, die fast zwangsläufig bei der Fluchthilfe begangen werden mussten – nämlich die ganzen Urkundendelikte, unerlaubter Waffenbesitz, Zollvergehen oder so lächerliche Dinge wie Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung, wenn ein Auto umgebaut wurde. Allerdings: Strafrechtlich verurteilt wurde nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz der kommerziellen Fluchthelfer.

Warum war man sich auf DDR- und BRD-Seite eigentlich so einig, dass die kommerziellen Fluchthelfer zu verurteilen seien?

Auch in Westdeutschland gab es in breiten Bevölkerungsteilen Ressentiments gegen Kommerzialität überhaupt, und gegen Handlungen, die nicht strafbar sind, aber in einem Bereich stattfinden, der gesetzlich nicht geregelt ist, so wie die Fluchthilfe eben war. Das hatte dann etwas Anrüchiges – sehr viel mehr als etwa in den USA. Die amerikanische Presse hatte mit dem kommerziellen Element nie so ein Problem. Es war aber auch objektiv ein Dilemma: Man brauchte die Verhandlungen mit der DDR, um das Los ganz vieler Menschen zu erleichtern. Es wurden beispielsweise 250.000 Menschen im Rahmen der Familienzusammenführung und 34.000 Häftlinge herausgekauft. Gerade aber die Gruppe der Flüchtlinge, die in der DDR eigentlich ein bequemes Leben hätten führen können, die gut ausgebildet waren, aber die Freiheit wollten, auch die Freiheit zu Konsumentscheidungen im Westen – für diese Gruppe konnte die Bundesregierung lange Zeit nichts tun. Das war die Zielgruppe für die kommerziellen Fluchthelfer.

Hätte sich die Politik im Westen auch in den 70er-, 80er-Jahren klarer zur Fluchthilfe bekennen müssen oder war es richtig, wegen der „Wandel durch Annäherung“-Politik etwas auf Distanz zur Fluchthilfe zu gehen?

Das ist eine politische Frage, da muss ich kurz überlegen. Meine persönliche Meinung ist: Es hätte einigen Politikern der sozialliberalen Koalition gut angestanden, nicht immer nur auf das kommerzielle und anrüchige Moment der Fluchthilfe zu verweisen, sondern auch immer deutlich zu machen, dass erst das Grenzregime der DDR diese Fluchthilfe erzeugt hat. Es liegt auch eine gewisse Ironie darin, dass die Karikatur des Kapitalisten, die der kommerzielle Fluchthelfer darstellt und die von der DDR-Propaganda stark ausgeschlachtet wurde, erst durch die Diktatur der DDR so hervorgerufen worden ist.

Die Fluchthilfe hatte nicht wirklich Auswirkung auf den Zusammenbruch der DDR, das war eher der große Strom der Ausreisewilligen in den 80er-Jahren.

Die Fluchthilfe wurde Anfang der 80er-Jahre praktisch bedeutungslos – da fielen die Zahlen unter 100, ja 50 Flüchtlinge pro Jahr. Ab 1984 mit der großen Ausreisewelle brauchten auch die Ingenieure und Ärzte, die gut ausgebildeten Menschen diesen auch für sie riskanten und gefährlichen Weg der Fluchthilfe nicht mehr. Sie hatten den Ausreiseantrag als Alternative.

Bei vielen SED-Opfern sieht man häufig eine gewisse Verbitterung, dass ihr Leiden nicht oder zu wenig anerkannt wird. Beobachten Sie solche Verbitterung auch bei Fluchthelfern, dass ihre Taten nicht gewürdigt werden?

Das kann man nicht generalisieren. Einige, vor allem die, die in Haft waren, die zum Teil sehr traumatisiert sind, weil sie schreckliche Erlebnisse hatten, die sie nicht verwunden haben, leben noch heute in Verbitterung – und zum Teil in Paranoia. Wieder andere, vor allem die aus der so genannten Heldenzeit, sind sehr souverän im Umgang mit ihrer Geschichte und verstehen sich auch nicht als Opfer.

Was lernen wir denn aus der Geschichte der Fluchthilfe: etwa, dass auch eine idealistische Idee sich im Laufe der Zeit korrumpieren kann?

Vielleicht, dass Menschen ein idealistisches Projekt, wenn es von der Diktatur in die Mangel genommen wird, aus der Hand gleitet und sie mitgerissen werden von einer Entwicklung, die sie überhaupt nicht mehr steuern können, sondern die von der Diktatur gesteuert wird. Die Fluchthelfer haben sich nicht selber korrumpiert, sondern die Fluchthilfe ist von der DDR korrumpiert worden. Ich selbst habe vor allem gelernt, unser Grundgesetz zu bewundern, das entgegen allen politischen Hin und Hers und allen gesellschaftlichen Stimmungen durch alle Jahrzehnte hindurch den Menschen in der DDR dieses Freiheitsversprechen gegeben hat und auch einlösen konnte. Das finde ich wirklich eine großartige Leistung unserer Verfassung, die bisher noch überhaupt nicht anerkannt oder verstanden worden ist.

Sie haben kleine Kinder: Können die noch etwas mit dem Thema Mauer anfangen? Wie wollen Sie irgendwann einmal den Kindern erklären, was die Mauer war?

Die Kinder verstehen sehr gut, was es bedeutet, wenn eine Familie zerrissen wird durch eine Mauer, wie es zehntausendfach der Fall war. Es gibt bisher keine Kinderbücher, die dieses Thema irgendwie angemessen aufarbeiten würden – ich habe schon überlegt, ob ich nicht eines schreiben soll. Meine Kinder würden sich das sogar wünschen.