Monströser Fischer, streikender Tod

OPER „Peter Grimes“ von Benjamin Britten feiert in der Inszenierung von David Alden an der Deutschen Oper eine gelungene Premiere. Die Staatsoper zeigt in der Werkstatt des Schillertheaters „Der Kaiser von Atlantis“

Verpasstes Leben, Suff und sexuelles Elend werden in „Peter Grimes“ sichtbar

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Benjamin Britten würde in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag feiern. Seine Opern haben einen festen Platz im Repertoire der Opernhäuser erobert, auch in Deutschland, wo sie es schwerer hatten als anderswo. Das deutsche Qualitätssiegel Neue Musik wird ihnen schließlich bis heute verweigert, wahrscheinlich auch zu Recht.

Aber das muss niemanden mehr interessieren. Für „Peter Grimes“, ein Stück aus dem Jahr 1945, hat die Deutsche Oper auf eine sehr erfolgreiche Inszenierung an der English National Opera von 2009 zurückgegriffen und den Regisseur David Alden gebeten, sie in Berlin aufzuführen. Der Bitte kam er nach. Am Freitag feierte das Stück Premiere. Und die Antwort, die Alden auf die Frage nach der Aktualität dieses Stücks konservativer Musik gibt,überzeugt.

Erzählt wird die Geschichte des Fischers Peter Grimes. Grimes ist ein böser, jähzorniger Mann, der seine Lehrjungen prügelt. Zwei von ihnen kommen unter ungeklärten Umständen zu Tode, es gibt Gerede im Dorf. Grimes will es ihnen heimzahlen, will reicher werden als alle, fantasiert ein Leben mit Frau, Haus und Kindern. Mit dem Tenor Christopher Ventris hat die Deutsche Oper geradezu die Idealbesetzung dieser Figur gefunden. Ein massiger Mann singt mit durchdringender, gepresster Stimme seine Wut heraus, die immerzu in Klagen umkippt, vor Selbstmitleid triefend. Ein wahres Monster dörflicher Dumpfheit steht da auf der Bühne und lässt mit wohl geformten Arien verstehen, worin Brittens Kunst besteht.

Sie versucht nicht, Seelen zu ergründen, sie gibt ihnen nur klare Formen. Peter Grimes ist kein bisschen tragisch, und unter Aldens Regie entsteht um ihn herum die womöglich einzige Oper, die ohne jeden Helden auskommt. Das Libretto geht auf ein Gedicht aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts zurück, das Charaktere und Anekdoten aus einem Fischerdorf schildert. Britten bricht den Naturalismus des Stoffs durch ausführliche, reich instrumentierte Zwischenspiele des Orchesters. Sie illustrieren die Natur, das Meer und den Sturm, stehen aber dennoch so sehr für sich selbst, dass sie auch als Orchestersuite aufgeführt werden können.

Der Dirigent Donald Runnicles lässt sie in ihrer ganzen Klangschönheit leuchten. Die Gesangsszenen zwischen ihnen werden zu Episoden einer langen Erzählung. Alden nimmt die Figuren, die darin vorkommen, behutsam zur Hand, verpasstes Leben, Suff und sexuelles Elend werden sichtbar, aber nicht verurteilt. Am Ende besingt der Chor den ewigen Wechsel der Gezeiten, in denen auch Grimes seinen Tod findet.

Aldens Regie hinterlässt nachwirkende Porträts lebender Personen. Michaela Kaune etwa als Lehrerin, die glaubt, Grimes zu lieben, weil sie ihm helfen will. Oder Peter Brück als pensionierter Handelskapitän, der das auch versucht, aber ohne Sentimentalität. Alden führt große Oper auf sehr eigene Art auf. Der Premierenapplaus war entsprechend groß.

Am Samstag dann stellte Mascha Pörzgen in der Werkstatt des Schillertheaters ihre Inszenierung von „Der Kaiser von Atlantis“ vor, ein Stück nach Viktor Ullmann und Peter Kien. Maskenhaft stilisierte Figuren spielen die groteske Parabel vom Tod, der sich weigert, seinen Dienst zu verrichten, weil der große Kaiser den allgemeinen Endkrieg ausgerufen hat. Begleitet von einem Kammerorchester mit Akkordeon und Saxofon singen auch sie Melodien, die sich manchmal zu großen Arien auftürmen.

Man könnte sie als schön empfinden, aber es ist nicht möglich, weil jedes ästhetische Urteil erstickt wird durch die Tatsache, dass dieses etwa 60 Minuten lange Stück tatsächlich modern klingender, mit Zitaten und Stilen experimentierender Musik im Lager von Theresienstadt geschrieben worden ist. Aufgeführt worden ist es dort nie. Die Nazis haben die Autoren in die Gaskammern von Auschwitz geschickt, bevor es dazu kam.

Zum Glück hat Mascha Pörzgen keinen Versuch unternommen, die Realität von Theresienstadt auf die Bühne zu stellen. Vor der grauen Wand eines abstrakten Kaiserpalastes bleibt die Bühne leer. Das Wort haben allein Ullmann, der Schüler Schönbergs und Kien, der hochbegabte Zeichner und Dichter. Das Grauen der Umstände, unter denen das Werk entstand, ist bei der Inszenierung jederzeit präsent. Das Stück ist schwer zu ertragen, aber notwendig. Man traut sich danach sogar, ein wenig zu applaudieren.

■ Nächste Vorstellungen: „Peter Grimes“, Deutsche Oper, 5., 9., 13., 15. Februar; „Der Kaiser von Atlantis“, Werkstatt Schillertheater, 29., 31. Januar, 2., 5., 7., 9. Februar