Elektropop: Romantik für den Tanzboden

Wenn Kissogram zum Synthesizer greifen, bekommt der Electro-Pop den Blues. Ihr neues Album "Nothing, Sir" ist ein gelungenes Experiment.

Elektrofrickler auf den Spuren Jim Morrisons: Dassé und Poppe Bild: Promo

Der Friedhof ist ein allgemein anerkannter Geheimtipp. Klein und überschaubar, grün und erholsam, liegt er wie eine ruhige Insel mitten in der hektischen Betriebsamkeit von Prenzlauer Berg. Nicht mehr ganz junge Väter schieben Kinderwägen durch die Gräberreihen, halbnackte Nichtstuer versuchen ausgestreckt, ihre Winterblässe loszuwerden. Und Jonas Poppe wundert sich, ständig mit einem berühmten Toten verglichen zu werden.

Nein, da ist er entschieden anderer Meinung. Weder würde sich "Nothing, Sir!", das neue Album von Kissogram, bisweilen anhören wie eine elektronische, elegant unterkühlte Version von The Doors. Noch würde er so singen wie Jim Morrison. "Den Vergleich kann ich nicht nachvollziehen", sagt er in die Friedhofsstille hinein, "aber wenn man schon verglichen wird, dann am liebsten natürlich mit den Besten."

Die sind es, an denen sich Poppe und sein musikalischer Partner Sebastian Dassé orientieren, die Allerbesten aus allen Zeiten. Poppe nennt so unterschiedliche Helden wie Monochrome Set und Devo, den Gun Club und The Fall. Im Tourbus, erzählt er, laufen Led Zeppelin, Velvet Underground und Herman Dune, aber auch Rembetika und Blues.

Zum Verständnis der Musik von Kissogram allerdings trägt diese Ahnenreihe nur bedingt etwas bei. Denn, so Poppe, "bei aller Bescheidenheit: Das, was wir machen, ist relativ neu und relativ ungewöhnlich." Und bei aller jugendlichen Arroganz: Er hat womöglich recht. Denn man kann zwar all diese Einflüsse, die goldenen Sixties und den klassischen Indie-Rock aus den Achtzigern, hören in ihrer Musik. Die meisten aber fühlen sich eher erinnert an Depeche Mode oder Heaven 17. Was kein Wunder ist, denn schließlich bedienen sich die beiden ausgiebig elektronischer Klänge. Zwar spielt auf dem neuen Album auch eine E-Gitarre immer wieder mal eine prominente Rolle, aber prinzipiell ist "Nothing, Sir!" eine Electro-Pop-Platte. Songorientiert, mit einigen grandiosen Melodien und fantasievoller Klangausstattung.

Poppes Blick liegt auf den Gräbern, und das Gespräch läuft fast unweigerlich wieder in Richtung Vergangenheit. Erstmals zusammen Musik gemacht haben der 27-Jährige und der gleichaltrige Dassé in einer Schülerband, die Rock-n-Roll-Klassiker aus den Fünfzigern coverte. Später gründete man die Sitcom Warriors, eine rüde, bisweilen zum Atonalen neigende Band, die bis heute existiert. Poppe spielt momentan auch noch mit Christof Leich, dem Schlagzeuger von Die Sterne, in der Punkband Davos. Der Durchbruch aber kam mit Kissogram: Als sich Poppe und Dassé 1999 Synthesizer und Rhythmusmaschine griffen, um ihren von Punk, Blues und Indie-Rock geprägten Geschmack elektronisch umzusetzen, gelang ihnen gleich zum Einstieg ein Überraschungserfolg. "If I Had Know This Before", ihre erste Maxi, wurde dank des auf der B-Seite enthaltenen Remixes des Berliner DJs Woody 2001 zur Club-Hymne. So effektiv beschallte der Track die Tanzböden, dass er gar von WestBams Label Low Spirit lizenziert und mithin in den Techno-Kanon aufgenommen wurde.

Auch wenn sie mit "elektronischen Instrumenten umgehen wie niemand bisher", so stammen ihre musikalischen Grundlagen doch aus einer Zeit vor der Digitalisierung der Musik, und die Ideen gehen vom Song aus, nicht vom Track. "Trotzdem machen wir keine nostalgische Musik", sagt Poppe. Was richtig ist. Aber romantisch ist sie, oft auch melancholisch. Durch viele Lieder zieht sich die Atmosphäre eines verregneten Sonntagnachmittags. Nicht umsonst wacht auf dem Cover von "Nothing, Sir!" ausgerechnet Lauren Bacall über die beiden Film-noir-Fans.

Der musikalische Fixpunkt des Albums aber ist Jim Morrison. Wenn Kissogram ihrer Liebe für den Blues nachgehen, wenn sie die Strophen um ein schwerblütiges Bluesrockriff herumbauen, dessen Schwermut dann in einem galoppierenden Refrain aufgelöst wird, erinnert das sehr an die Doors. Und Poppe klingt, auch wenn er selbst das anders sieht, immer wieder wie der "Lizard King". Aber auch bei der Titelgebung für den Song "Buzzard King" wollen die beiden nicht an Morrison gedacht haben.

Gedanken machen sie sich eher über ihre internationalen Perspektiven. Vor allem Auftritte in Italien haben Poppe davon überzeugt, dass seine Musik "im Ausland funktionieren kann". Die mitgebrachten CDs waren nach den Konzerten immer schnell verkauft, "die Leute wollen die Musik". Noch fehlt allerdings eine Firma, die den Mut hat, Kissogram in anderen Ländern zu veröffentlichen. Aber wer weiß, vielleicht geben sie ihre Interviews eines Tages ja auf dem Cimetière du Père Lachaise.

Kissogram: "Nothing, Sir!" (Louisville)

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