Debatte: Wie raus aus dem Schlamassel?

Für einen Rückzug aus dem Irak gibt es historische Vorbilder. Doch dazu müssten die USA auf ihren Hegemonialanspruch in der Region verzichten

Noch im Oktober dieses Jahres tönten aus dem Weißen Haus in Washington unbeirrt die Siegesfanfaren und das trotzige "We shall prevail!". Dann folgten auf das für Präsident Bushs Irakpolitik vernichtenden Ergebnis der Kongresswahlen die Empfehlungen der Iraq Study Group. Das Gremium der "elder statesmen" aus den beiden großen Parteien forderte, die amerikanische Truppenpräsenz im Irak in den nächsten zwei Jahren massiv zu reduzieren, die Schlagkraft der irakischen Armee mithilfe von Dollars und Training durch US-Berater zu erhöhen sowie mit Syrien und dem Iran zu verhandeln - beide Länder galten bislang der Achse des Bösen zugehörig. Seither bewegt die amerikanische Öffentlichkeit nur noch ein Thema: Wie kommen wir raus aus dem Irak-Schlamassel?

Dass es weit leichter ist, einen Krieg anzufangen als ihn zu beenden, gehört zu den Gemeinplätzen der historischen Erfahrung. Unmittelbar vor der amerikanischen Invasion des Irak hat der damals fast hundertjährige Diplomat und Historiker George Kennan diese Erfahrung in die Sentenz gekleidet: "Wenn wir heute in den Irak gehen, wozu der Präsident uns bringen will, wissen wir, wo wir beginnen. Aber wir werden niemals wissen, wo wir enden."

Eine immense Fallhöhe tut sich auf zwischen der ursprünglichen Kriegsstrategie Bushs und deren Ergebnissen. Was heute wie ein wüster Fiebertraum erscheint - der befreite Irak als Leuchtfeuer für eine Demokratisierung des gesamten Nahen Ostens -, war für die neokonservativen Kriegsbefürworter damals ein realistisches politisches Projekt mittlerer Reichweite, es war das erklärte Kiegsziel. Jetzt, nach dem Einbruch der Realität in die fantastische Welt GeorgeW. Bushs und seiner Ratgeber, gilt es für den Präsidenten, diese Fallhöhe zu mindern. Mit der Neudefinition dessen, was unter einem "Sieg" im Irak zu verstehen sei, ist jetzt der Anfang gemacht. Statt der demokratischen Revolutionierung der ganzen Region, ja statt der Etablierung demokratischer Verhältnisse im Irak heißt es nun laut Bush: "Sieg meint, dass der Irak sich selbst verteidigen, regieren, als Staat erhalten kann." Aber auch dieses reduzierte Kriegsziel setzt nach Meinung des Präsidenten amerikanische Truppenpräsenz voraus - ja sogar, wie Bush vorgestern erklärte, deren temporäre Verstärkung! Denn ein klarer Zeitplan für den vollständigen Abzug würde, so Bush, den Staatszerfall im Irak beschleunigen, das Land zum sicheren Hafen für Terroristen machen und eine Bedrohung der ganzen Region und der USA heraufbeschwören. Also weiter wie bisher - und dabei eine Strategie des Rückzugs propagieren, die keine ist?

Seit Sommer dieses Jahres tobt im Milieu der außenpolitischen Experten der USA, zum Beispiel in der Zeitschrift Foreign Affairs, eine heftige Diskussion um die Exitstrategie. Die meisten Analysen gehen von einem endemischen Bürgerkrieg, einem "communal war" im Irak aus: Auf der einen Seite der schiitisch-kurdisch dominierte Staatsapparat plus Armee, der auch über die Ölproduktion des Landes gebietet. Auf der anderen Seite der sunnitisch-arabische Bevölkerungsteil, der seine dominierende Stellung im Staat und bei der Verteilung der Resourcen eingebüßt hat und sich damit nicht abfinden wird. Alles hängt also davon ab, einen vernünftigen Kompromiss zu finden - sprich, die arabisch-sunnitischen Seite zu stärken, durch Garantien bei der Verteilung der Ölerträge, durch Integration der arabischen Sunniten in die Streitkräfte und durch eine Verfassungsreform. Das aber kann nur durch Druck der USA gelingen - also durch fortdauernde Truppenpräsenz.

Das Problem dieser Art von schrittweisem Exit besteht aber darin, dass die Anwesenheit der Amerikaner im Irak das verbindende Feindbild abgibt, auf das sich die verschiedenen ethnischen und religiösen Parteien einigen können. Denn der "communal war" läuft parallel zu verstärkten Angriffen auf die Besatzungsmacht. Sie fordern einen Blutzoll, der sich noch erhöhen würde, wenn USA-Berater innerhalb der irakischen Armee quasi "embedded" operierten. Deshalb müssen Vorschläge, die von einer bewaffneten Mittlerrolle im Irak ausgehen, notwendig die "antiimperialistische" Seite des Widerstands ausblenden.

Kann die Geschichte als Lehrmeister für den Rückzug dienen? Drei Lehrbeispiele sind im Umlauf. Das erste, die erfolgreiche Besatzungsgeschichte Japans und Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, war ursprünglich Bushs Lieblingserzählung, ist aber an der Realität Iraks hoffnungslos zuschanden geworden. Das zweite, ein vereinbarter Rückzug der Amerikaner kraft Vertrags, also das vietnamesische Modell, scheitert am Fehlen eines Vertragspartners der USA und wäre zudem ein offenes Eingeständnis der Niederlage, also unbrauchbar. Das dritte Modell betrifft die Staatskonstruktion Bosnien und Herzegowina als multinationales und multireligiöses Gebilde in Folge des Dayton-Abkommens von 1985. Gerade dieses letzte Beispiel ist angesichts der Zerbrechlichkeit des Drei-Völker-Staatsgebildes Bosnien besonders schlecht geeignet, auf den Irak übertragen zu werden: Zu teuer, zu langwierig, zu geringe Erfolgsaussichten.

Ein Aspekt des Dayton-Abkommens bleibt allerdings für viele USA-Irak-Experten bestechend: Sein Charakter als international abgeschlossener und garantierter Vertrag. Nicht umsonst liebäugeln Berater bis hin zur Baker-Hamilton-Kommission mit einer internationalen Irakkonferenz. Deren Ziel sollte es sein, durch die "Einbindung" Syriens, des Irak und der arabischen Anliegerstaaten den Ausbruch eines regionalen Kriegs zu verhindern, für ein halbwegs stabiles Kräftegleichgewicht im Irak zu sorgen und den Aufbau des Landes voranzubringen. Für letztere Aufgabe sind die EU und die UNO ausersehen.

Dass das "Nation-Building" nicht gerade zu den Stärken der Supermacht USA gehört, war Skeptikern bis in die Reihen der Bush-Regierung von vornherein klar gewesen. Gerade deshalb hatte der Verteidigungsminister Rumsfeld, ein Anhänger des außenpolitischen "Realismus", einen raschen Feldzug, die Installierung einer neuen Regierung und einen ebenso raschen Abzug favorisiert: Den Rest sollten Andere erledigen. Bekanntlich setzte sich diese Linie nicht durch. Umso verlockender erscheint die Idee, sich jetzt des ganzen Irak-Schlamassels durch einen internationalen Friedensprozess zu entledigen. Die deutsche Bundesregierung hat bereits zu verstehen gegeben, dass sie ihr Scherflein für ein solches Unternehmen beisteuern würde.

Eine internationale, vertraglich abgesicherte Friedensregelung für den Irak ist ein schwieriges, riskantes Unternehmen, allerdings nicht völlig chancenlos. Voraussetzung wäre freilich, dass die USA ihren Hegemonialanspruch in der Region definitiv aufgeben, was einen festen Abzugstermin für ihre Truppen im Irak einschließt. Bis jetzt gibt es hierfür keine Anzeichen. So harrt die Schreckensfrage "Wie kommen wir hier raus" noch immer der Antwort.

CHRISTIAN SEMLER

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