Abwanderung : Bloß weg hier

Kein Geld, keine Arbeit, keine Perspektive - immer mehr Junge ziehen aus Ahlbeck weg. Ein Beispiel aus der ostdeutschen Provinz, die unaufhaltsam verwaist und veraltet.

In der ostdeutschen Provinz sind so viele junge Menschen auf einem Fleck selten. Bild: dpa

AHLBECK taz Sie ist noch etwas unsicher in ihrer neuen Rolle. Es ist gerade zwei Tage her, dass Angela Zeisler in Ahlbeck zur neuen Bürgermeisterin gewählt worden ist. Bei einem Glas Wasser sitzt sie im Schatten der Kneipe "Zur alten Schmiede": weiße Hosen, weißes T-Shirt, die rosa Sonnenbrille in die blonde Kurzhaarfrisur versenkt. Als parteilose Einzelkandidatin hat sie sich gegen den einzigen Konkurrenten durchgesetzt, nachdem der alte Bürgermeister überraschend zurückgetreten war.

An ihrer Seite sitzt Gudrun Bader, sie wirkt erschöpft. Die Staatswissenschaftlerin war in der DDR mal Bürgermeisterin von Ahlbeck und erklärt jetzt Angela Zeisler, wie sie Reden hält und damit bei den Leuten ankommt. Angela Zeisler weiß, dass sie es schwer haben wird und dass sie sich schnell etwas einfallen lassen muss, um die Probleme der vorpommerschen Gemeinde zu lösen. Das Dorf am Stettiner Haff hat 1,8 Millionen Euro Schulden, jedes Jahr kommen 100.000 Euro hinzu, die Ruine der alten Mühle direkt hinter dem zentralen Dorfplatz droht einzustürzen, und immer öfter gibt es Stress mit den Hartz-IV-Bewohnern im sanierten Plattenbau. Aber das ist alles nichts gegen diese eine Sorge: Aus Ahlbeck wandern die Jungen ab.

Und nicht nur von dort. Über 1,5 Millionen Ostdeutsche haben seit dem Mauerfall ihre Heimat in Richtung Westen verlassen. Das hat das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung kürzlich durch seine Studie "Not am Mann" öffentlich gemacht. An manchen Orten ist die Abwanderung größer als in den europäischen Polarregionen, beklagte Institutsleiter Reiner Klingholz.

Es sind vor allem die jungen Frauen, die gehen. Sie haben die besseren Schulnoten und offensichtlich mehr Lust auf Karriere und Beruf. Der Landkreis Uecker-Randow, zu dem Ahlbeck gehört, hat seit 1990 ein Viertel seiner Bevölkerung verloren. Eggesin, die Kreisstadt und bekannt als ehemaliger Standort der Nationalen Volksarmee der DDR, ist von 9.500 Einwohnern auf 5.000 geschrumpft, Ahlbecks Nachbargemeinde Hintersee ist halbiert worden, Ahlbeck selbst zählte nach der Wende noch 900 Frauen, Männer und Kinder, heute sind es 775.

Klick, klack, zack. Angela Zeisler, 44, tippt Zahlen in einen Taschenrechner. Sie will wissen, wie alt Ahlbeck ist. Zwischendurch blättert sie in einem Hefter, die Seiten fliegen hin und her. Gudrun Bader geht das nicht schnell genug, sie greift dazwischen und tippt selbst: "So!" 317 Ahlbecker sind über 60 und älter, das ist fast die Hälfte. 42 sind unter 25, es gibt mehr Männer als Frauen. "52", ruft sich Angela Zeisler zurück in Erinnerung. "52 ist unser Altersdurchschnitt." Sie zuckt zusammen, als ahne sie just in diesem Moment das Übel, das hinter dieser Zahl steckt.

Das Problem ist die Arbeit, sagt sie: "Es gibt hier keine." Nicht im Dorf, nicht im Umland. Sie versteht, dass die Jungen abhauen. Sie erlebt es in ihrer eigenen Familie. Ihre Tochter ist 19 und macht in Pasewalk, der nächstgrößeren Stadt, eine Ausbildung zur Krankenschwester. Wenn die Klinik sie nicht übernimmt, ist sie weg. Auch die Töchter von Gudrun Bader sind nicht mehr hier. Die eine ist Ärztin in Kassel, die andere studiert in Göttingen.

Zurück bleiben jene, die keine Arbeit mehr brauchen, und solche, die keine mehr bekommen: die Alten und die Langzeitarbeitslosen. Die "Überflüssigen", wie Andreas Willisch sie bezeichnet. Er ist Soziologe und Chef des Thünen-Instituts für Regionalentwicklung in Mecklenburg-Vorpommern und untersucht seit Jahren die Entwicklung auf dem ostdeutschen Land. Er sagt: "Es ist eine andere Form der Unterschicht entstanden." Die Gesellschaft brauche die Übriggebliebenen nicht mehr, um zu überleben und sich selbst zu reproduzieren.

Das ist hart, das will in Ahlbeck niemand hören. Angela Zeisler und Gudrun Bader kämpfen für den guten Ruf des Dorfes, es ist ihre Heimat, sie werden hier bleiben bis an ihr Lebensende. Gudrun Bader, 55, zeigt auf den Sportplatz und den Festplatz daneben mit Tanzfläche und Grillstelle: "Wir haben was zu bieten."

Die Schule ist aus. Drei Jungen und ein Mädchen schlendern über die Dorfstraße. "Alles Kacke hier", sagt Désirée Kölbel. Sie ist in der 8. Klasse und frustiert. "Nur weg", sagt sie. Die 14-Jährige will mal Kindergärtnerin werden. "Es gibt Möglichkeiten in der Region", versucht Gudrun Bader zu locken. Das Mädchen zuckt gelangweilt mit den Schultern. Später kommt Claudia Eulitz, 10. Klasse. "Der Strand", sagt die Gymnasiastin, "ist das einzige Positive hier." Nach dem Abi will sie als Au pair nach Amerika.

Zwei Bäcker, ein Laden, zwei Kneipen, eine Praxis - der Arzt ist 67 -, und acht kleine Handwerksbetriebe - so sieht Ahlbecks Infrastruktur aus. Heute. Aber was passiert in den nächsten Jahren? Klaus Nitschke, Ofenbauer und zwischendurch auch mal Bürgermeister, hatte immer drei Angestellte. "Jetzt arbeiten die in Holland", erzählt der 63-Jährige. Und er sagt: "Wahrscheinlich bin ich bald pleite." Egon Pfützenreuter ist es im Grunde schon. "1.143 Euro Umsatz im gesamten vergangenen Jahr", sagt der Inhaber der "Alten Schmiede". Er schiebt den beiden einzigen Gästen das Bier über den Tresen und schenkt sich selbst einen Klaren ein. Es ist mittags gegen 12 Uhr.

Angela Zeisler klappt ihre Mappe zusammen. Sie muss los, ins Büro. Sie hat einen Ingenieurbetrieb mit zweieinhalb Angestellten. Aber nicht in Ahlbeck, sondern in Torgelow, der Kreisstadt, 30 Kilometer entfernt. Säße sie hier, in Ahlbeck, hätte sie keinen einzigen Auftrag, sagt sie. "Momentan läuft es." Es ist ja nicht so, dass auf dem Lande nicht gebaut würde. Die Landflucht hat auch Vorteile. Nicht für die Dörfler, nein, das nicht, wohl aber für eine wachsende Zahl von Städtern. Ein Trend, der seit einigen Jahren anhält: Gut verdienende Akademiker und Freiberufler wie Journalisten, Filmemacher, Künstler und Fotografen kaufen Bauernhöfe im Umland und schaffen sich Ferien- und Wochenenddomizile. Einige wenige ziehen nach Jahren ganz in die Provinz.

Gudrun Bader dreht eine Runde durchs Dorf und bleibt vor einem aufwändig sanierten Bauernhaus stehen. Der Giebel ist eindrucksvoll, der Vorgarten dicht bepflanzt. Hier wohnt der Sprecher eines Ministerialbeamten mit seiner Familie. Für seinen Job fährt der Mann täglich mehrere hundert Kilometer nach Schwerin. "Selektiver Zuzug" heißt dieses Phänomen bei Andreas Willisch. Im Ortsteil Gegensee hat sich der Berliner Gerhard Mühlberg ein Haus und unendliche Hektar Land und Wald gekauft. Heute leitet er den Shanty-Chor von Ahlbeck. Zwei Gemeinden weiter hat sich eine Gruppe von Journalisten aus Berlin gemeinsam ein Gehöft hergerichtet. Die meisten von ihnen leben von Mischfinanzierung, wie sie es nennen: Halbtagsstelle in der Hauptstadt, der Rest der Zeit freiberuflich.

Gudrun Bader steht auf dem Dorfplatz und lässt ihren Blick über die Häuser rundherum schweifen: "Früher kannte ich jeden hier, auch aus den Nachbargemeinden. Heute nicht mehr." Es ist bitter, und das weiß Gudrun Bader: Die Neuen brauchen die Alten nicht, nicht zum Leben, nicht zum Reden. Sie kommen einfach her und machen ihr Ding. Nur hin und wieder fragt mal jemand, ob jemand eine Mauer hochziehen kann - illegal.

Die Städter verändern bisher nur äußerlich die Provinz, wegen des importierten deutsch-toskanischen Stils in Architektur und Lebensweise. Das soziale Gefüge wird nicht neu gemischt. "Nirgendwo schotten sich die Milieus so voneinander ab wie auf dem Dorf", sagt Soziologe Willisch. Und: "Die Bevölkerung auf dem ostdeutschen Land wird sich in Zukunft immer stärker ausdifferenzieren." In Jung und Alt, gut und schlecht Ausgebildete, Reiche und Arme. Daraus ergibt sich ein weiteres Problem: Hier siedelt sich keine Industrie mehr an, und die Firmen, die noch da sind, beklagen Facharbeitermangel - trotz Massenarbeitslosigkeit.

Selbst die zahlreich entstandenen Bio-Höfe lassen sich nicht ins soziale Leben einbinden, obwohl sie mit einer Regionalstruktur als Standortvorteil werben. Das Bio-Gut Borken beispielsweise, einer der größten regionalen Öko-Anbieter, braucht gar keine Käufer aus der Gegend, es liefert nach Berlin, Potsdam, Hamburg, Rostock. Ein Kilo Borkener Bio-Rindfleisch kostet rund 20 Euro. Gudrun Bader hebt nur die Hände: "Von uns kann sich das keiner leisten."

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