Für Schoko, Volk & Führer

Jahrelang forschte Fred Prieberg zur Geschichte der Musik im Nationalsozialismus. Jetzt hat er der Kieler Universität sein Archiv geschenkt, wo es zwei Enthusiasten hegen und pflegen. Eine Begehung

von Benjamin Moldenhauer

Unspektakulärer geht es kaum: ein weißer schmuckloser Raum auf dem Campus der Kieler Universität, an den Wänden ein halbes Dutzend mittelhohe Regale. Insgesamt 50 Meter Stellplatz, auf dem Aktenordner, Bücher und Schallplatten geordnet beieinander stehen. Wer nicht von sich aus ein brennendes Interesse für Musikgeschichte sein eigen nennt, dem werden hier, so ist zu befürchten, schnell die Füße einschlafen. Im übertragenen Sinne natürlich. Oder doch nicht?

Für alle, die sich für die deutsche Geschichte von 1933 bis 1945 interessieren, geht es kaum spektakulärer. Denn bei den Bergen von Briefen, Karteikarten, Sekundärliteratur und Zeitungsartikeln handelt es sich um das Privatarchiv des Fred K. Prieberg. Der Musikhistoriker hat sich als einer der wenigen an die Dokumente über die deutschen Komponisten, Musiker und Dirigenten zur Zeit des Nationalsozialismus herangetraut. Und das bereits in den Sechzigerjahren. Vor vier Wochen hat Prieberg der Kieler Universität sein Privatarchiv geschenkt, das in Deutschland umfangreichste seiner Art. Verwaltet wird der Bestand von Bernd Sponheuer, Professor am musikwissenschaftlichen Institut der Universität, und seinem Mitarbeiter Oliver Kopf.

Um Geschichte lebendig werden zu lassen, braucht es Enthusiasmus. Kopf und Sponheuer sind Enthusiasten. Ordner um Ordner wuchten sie aus den Regalen und knallen Dokumente auf den Tisch. Eine Rhythmik wie bei Igor Strawinsky. Vor dem Betrachter entfaltet sich ein wenig glorreiches Bild der deuschen Musikschaffenden im Nationalsozialismus. Dass eine nicht unerhebliche Affinität der Musik für die politische Macht in der Natur der Sache liegt, kann man sehr schön bei Elias Canetti nachlesen. Der schreibt in „Masse und Macht“ über den Dirigenten: „Er, die lebende Sammlung der Gesetze, schaltet über beide Seiten der moralischen Welt. Er gibt an, was geschieht, durch das Gebot seiner Hand, und verhindert, was nicht geschehen soll. Sein Ohr sucht die Luft nach Verbotenem ab. Für das Orchester stellt der Dirigent so tatsächlich das ganze Werk vor, in seiner Gleichzeitigkeit und Aufeinanderfolge, und da während der Aufführung die Welt aus nichts anderem bestehen soll als aus dem Werk, ist er genau so lange der Herrscher der Welt.“

Der prominenteste Fall ist Herbert von Karajan. Der österreichische Dirigent legte während der Nazizeit eine glänzende Karriere aufs Parkett, sei aber, so die Sprachregelung nach Ende des Krieges, immer „unpolitisch“ geblieben. 1945 gab er an, erst 1935 unter Druck der Partei in die NSDAP eingetreten zu sein. Aus einer der 1.200 Karteikarten, die Prieberg im Lauf der Jahre gesammelt hat, geht allerdings hervor, dass Karajan bereits im Mai 1933 und ohne Not Mitglied der NSDAP wurde. Seiner Karriere hat das nach dem Ende des Dritten Reiches keineswegs geschadet. Wurde er mit den historischen Fakten konfrontiert, konnte er sehr unleidlich werden. Wie eigentlich alle, denen Prieberg Fälschung und Verschleierung nachwies, gereizt auf den allzu interessierten Historiker reagierten. Der Biograf Roger Vaughan konfrontierte den Stardirigenten mit Priebergs Ergebnissen: „Karajans unmittelbare Reaktion auf die Veröffentlichung der Dokumente war helle Empörung. ‚Das ist eine reine Erfindung‘, sagte mir Karajan. Er spie diese Worte mit Verachtung aus und wedelte mit der Hand, als wollte er ein Orchester zum Schweigen bringen, das völlig außer Kontrolle geraten ist.“

Prieberg machte es den Musensöhnen schwer, sich mittels der Manipulation ihrer Biografien und einer neuen Frisur der Werkverzeichnisse als persilrein zu inszenieren. Auch ein Briefwechsel zwischen Carl Orff und dem Oberbürgermeister von Frankfurt am Main aus dem Jahre 1938 findet sich in Kiel dokumentiert, in dem der Komponist ergeben mit „Heil Hitler!“ unterzeichnet. Da half es dann auch nichts, dass Orff 1949 prompt seine Widerstandsoper „Antigone“ komponierte. Prieberg hätte sich nie blenden lassen. „Das Archiv ist nicht zuletzt ein eindrucksvolles Zeugnis eines engagierten Umgangs mit der Zeit des Nationalsozialismus“, so Sponheuer. Prieberg ist es in erster Linie zu verdanken, dass es seit den Sechzigerjahren nicht mehr so leicht war, sich mit Verweisen auf die vorgeblich „reine Kunst“ oder die eigene „unpolitische Einstellung“ aus der Affäre zu ziehen.

Interessant sind aber auch ganz andere Felder: „Zwischen der Ästhetik der Nazis und der heutigen Werbeästhetik bestehen starke Parallelen“, erklärt Sponheuer. Und personelle Kontinuitäten: Norbert Schultze, Komponist von Schlagern wie „Lili Marleen“ und Kriegspropaganda wie „Bomben auf Engeland“, reüssierte in der Bundesrepublik relativ unbelastet als Schöpfer von Musical- und Werbemelodien. Und Carl Orffs „Carmina Burana“ gelangte zu Anfang der Neunziger durch einen reichlich pompösen Werbespot für Nestlé-Schokolade zu neuer Popularität. Bei Richard Strauss war es Toblerone.

„Faschistische Musik funktioniert mittels einer Ästhetik der Überwältigung“, erklärt Sponheuer. „Sie gibt sich als naturhaft aus und versucht, ihren Entstehungsprozess vergessen zu machen.“ Deswegen war Atonalität verpönt. Vom theoretischen Exkurs geht es im Sauseschritt zurück zur Empirie. Der gerade Weg ist vielleicht der schnellste, oft aber auch der langweiligere. Sponheuer und Kopf wählen für die Präsentation ihrer Schätze den Zickzackkurs, erzählen abwechselnd und gleichzeitig von den Ambivalenzen in der Musikpolitik der Nazis, Swing als Propagandamittel und Hitlers Hass auf den Komponisten Paul Hindemith.

Wohlgemerkt: In Kiel wird nicht nur der Bestand gesichert, sondern weiter geforscht. Die ganzen Semesterferien lang hat Oliver Kopf im Bundesarchiv Berlin von neun Uhr morgens bis in die späten Abendstunden Akten gesichtet, katalogisiert und kopiert. Langweilig sei ihm nicht geworden. „So einen intensiven und fassbaren Kontakt mit der Geschichte kannte ich vorher nicht“, erzählt er. Etwas fahrig spricht er, und schnell. Auch das Durchhören etlicher Stunden Tonband sei nicht so quälend, wie man vielleicht spontan denken könnte. „Da ist Musik auf allen Niveaustufen zu hören, und das meiste geht schon gut ins Ohr.“ Die Weiterarbeit ist nicht gesichert: die leidige Finanzierung. Sponsorengelder wären nötig.

Auf Hindemith jedenfalls war Hitler seit 1927 nicht mehr gut zu sprechen, als er während der Aufführung der Oper „Neues vom Tage“ eine Sängerin auf der Bühne sehen musste, die – bekleidet nur mit einem fleischfarbenen Kostüm – in einer Badewanne saß. Das war zu viel für den Führer. Die Uraufführung seiner Oper „Mathis der Maler“ 1938 durfte nicht mehr in Deutschland stattfinden, Hindemith wich in die Schweiz aus. Auch nach seiner Emigration im selben Jahr wurden seine Werke im Reich noch aufgeführt. Den einen galt er als „Neutöner“, die anderen feierten ihn als echten deutschen Musikanten. „Der Fall Hindemith zeigt, dass die Kulturpolitik der Nazis keineswegs als monolithischer Block zu sehen ist“, so Sponheuer. Sogar eine deutsche Jazzkapelle existierte im Dritten Reich. Gegen den vehementen Protest des Leiters des „Kampfbundes für Deutsche Kultur“, Alfred Rosenberg, veranlasste Goebbels die Gründung eines Propagandaorchesters, das populäre amerikanische Swingklassiker spielte, die mit neuen Texten versehen wurden. Zu empfangen nur über Propagandasender im Ausland. Im Reich durfte die Musik von „Charlie and his Orchestra“ nicht gesendet werden. „Es gab also Ambivalenzen“, so Sponheuer. Ganz eindeutig hingegen war die Politik im Falle von jüdischen und kommunistischen Komponisten: Sie wurden ohne Ausnahme verfolgt.

Um die Geschichte der Musik im Nationalsozialismus in all ihrer Komplexität aufzuarbeiten wird das Prieberg-Archiv für künftige Forschungen unverzichtbar sein, meint Sponheuer. Zu Beginn des nächsten Jahres soll das Archiv der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.