„Die Härte der Fälle nimmt zu“

Nur durch eine bessere Vernetzung vieler Institutionen kann eine Vernachlässigung von Kindern früher erkannt werden: Rüdiger Kuehn, Chef des Jugendhilfe-Trägers SME über Kindeswohl und effizientere Hilfen für problembeladene Familien

Interview: Marco Carini

taz: Vermehrt werden in diesen Tagen Fälle der Vernachlässigung von Kindern bekannt. Einzelfälle oder nur die Spitze des Eisbergs?

Rüdiger Kuehn: Beides. Die Dimension der Vernachlässigung bei den jetzt bekannt gewordenen Fällen ist schon besonders gravierend. Das sind Einzelfälle. Aber es gibt andere Formen der Vernachlässigung die uns in unserem Alltag täglich begegnen.

Wie sehen diese Formen aus?

Kinder haben Hunger, tragen schlechte, der Jahreszeit nicht angemessene Kleidung oder gehen nur unregelmäßig zur Schule. Es fehlt oft materiell an allen Ecken und Enden. Und viele Eltern sind nicht in der Lage, ihren Alltag zu organisieren, sich angemessen um ihre Kinder zu kümmern und für deren Wohl zu sorgen. Da spielen neben materieller Not oft auch Drogenkonsum oder psychische Probleme eine entscheidende Rolle.

Beobachten Sie eine Zunahme familiärer Problemfälle?

Von der Zahl her nicht, aber von der Härte der Fälle. Viele Familien gleiten in immer stärkere Armut ab – mit den entsprechenden Folgeerscheinungen für die Kinder. Neben Vernachlässigung ist dabei auch Gewalt in den Familien ein Thema.

Wie hat sich die Jugendhilfe seit dem Hamburger Regierungswechsel verändert?

Die herausragende Konsequenz der immer knapper werdenden Ressourcen ist, dass heute alle Akteure sagen: „Wir haben keine Zeit.“ Die Aufgabe, verborgene Vernachlässigung aus dem Dunkelfeld aufzuklären, kann niemand mehr wahrnehmen. Alle Institutionen haben mehr als genug damit zu tun, auf die offensichtlichen und akuten Fälle zu reagieren.

Was muss sich da ändern?

Die Sozialen Dienste und die freien Träger müssen die Zuständigkeit für ihren Stadtteil und Zeit für Hausbesuche und Recherchen bekommen. Da braucht es einfach schlicht mehr Personal. Daneben müssen die Reibungsverluste zwischen Familiengerichten und Jugendämtern abgebaut und in eine intensive Kooperation umgewandelt werden, damit ein schnelleres Eingreifen in problembeladene Familienstrukturen möglich wird. Die Verfahren sind heute oft zu aufwendig und langwierig.

Die Vernachlässigungsproblematik wird seit Monaten im Sonderausschuss Jessica thematisiert. Welche Erwartungen haben Sie an diese Diskussion?

Es darf keine einseitigen Schuldzuweisungen geben, sondern es geht um eine ehrliche Auseinandersetzung mit den strukturellen Problemen, die zu einer Verbesserung der Angebote für vernachlässigte Familien führen muss.

Was ist da gefordert?

Es muss sehr viel mehr Augenmerk auf die Prävention bei Kindern bis zu drei Jahren gelegt werden. Die Zusammenarbeit der freien Träger mit Kindertagesstätten und Grundschulen muss systematisch verbessert werden. Auf diesen Ebenen gibt es zwar Kontakte bei problematischen Fällen, aber für eine regelmäßige Zusammenarbeit fehlen einfach die Kapazitäten. Insgesamt muss die Kooperation zwischen allen Bereichen, die mit problembeladenen Kindern und Familien zu tun haben, deutlich gestärkt werden. Das kostet Zeit und Geld, ist aber der einzige Weg, solche Vernachlässigungsfälle öfter und früher zu identifizieren. Wir werden heute oft erst tätig, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist.

Befürchten Sie, dass aus der angestoßenen Debatte auch falsche Schlüsse gezogen werden?

Ich befürchte, dass die Bürokratie durch vermehrte Nachweise und Kontrollverfahren noch weiter aufgebläht wird, was dann auf Kosten der Arbeit mit den Kindern und Familien geht.