: Achim, Mitch und Messer-Harry
Auf dem Abenteuerspielplatz der Jugend: Von wilden Partys, netten Junkies und einem Besuch im Gefängnis
Achim und Mitch lernte ich gleichzeitig kennen, weil sie immer zu zweit in die Lieblingskneipe meines Freundeskreises kamen: den „Schluckspecht“. Sie sahen sehr gut aus, wie aus einem Italo-Western entsprungen, und waren richtige Heroin-Junkies. Aber nett!
Ich besuchte Achim einmal, weil er immer so lustige Geschichten erzählte. Um in seine Behausung hineinzukommen, musste man erst über eine Mauer klettern, dann über Steine und Bauschutt, dann durch ein aufgeschlagenes Fenster, dann eine Treppe hinaufsteigen. An der Treppe sagte Achim: „Pass auf, die ist nicht ganz sicher.“
Wir kamen in ein Zimmer, das voll war mit Altglas, und schließlich war man in Achims Loch. Fenster gab es nicht, nur ausgesplitterte Scheiben und eine Iso-Matte. Achim schlief leider – kaum dass ich da war – sofort ein, und ich sah, wie ihm weißes Zeug aus Nase und Mund rann. Ich wollte gerade gehen, als drei Polizisten hochgestapft kamen. Sie weckten Achim, und Achim rief sofort: „Ich war’s nicht!“ Ein Polizist sagte: „Herr K., wir kennen uns doch inzwischen gut genug. Also müssen wir uns doch gegenseitig nichts mehr vormachen.“ Achim stand auch brav auf und ging mit den Polizisten mit. Ich hörte längere Zeit nichts mehr von ihm.
Eines Abend saßen wir, die „Schluckspecht“-Clique, um einen runden Tisch herum und tranken Bier. Plötzlich betrat ein pockennarbiger Irrer das Lokal, im Schlepptau hatte er einen schwarzhaarigen Knochenbrecher ohne Augenbrauen. Und die beiden wollten unseren Tisch! Der Pockennarbige legte als Erstes eine Axt auf den Tisch und stellte sich als „Harry“ vor. Wir standen alle brav auf, um den Tisch freizugeben. Aber der Pockennarbige legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: „Bleib sitzen!“
Sofort fing Harry an, mir von der Welt zu erzählen. Er zeigte mir sein Messer, das er am Gürtel trug. Er sagte, dass die Welt Scheiße ist und man zur Verteidigung besser ein Messer bei sich tragen müsse. Wozu er die Axt bräuchte, konnte er mir auf meine Nachfrage allerdings nicht so gut erklären. Ich fragte ihn, ob er Mitch und Achim kenne. Da wurde er böse und schnauzte mich an: „Hey, was willst du denn von denen? Kuck dich doch mal an, du bist doch höchstens zwanzig! Ich bin vierzig, und ich kenne die ganze Scheiße! Halt dich bloß von denen fern!“ Aber dann erzählte er mir doch noch, dass Achim im Knast sei. Achim und ich schrieben uns Briefe. Er schwärmte vom Gefängnis, weil er dort Bodybuilding machen konnte und es ein Sonnenstudio gab. Eines Tages wollte ich Achim mit einem unangekündigten Besuch überraschen. Also fuhr ich mit dem Fahrrad zum Gefängnis.
Ich fuhr und fuhr … Endlich hatte ich einen riesigen Gebäudekomplex erreicht, von dem ich dachte: „Das muss jetzt aber das Gefängnis sein!“ Was mich irritierte, waren die überaus gut gekleideten Damen und Herren, die dort ein- und ausgingen. „Das müssen die Anwälte sein!“, dachte ich und ging hinein. Drinnen dachte ich: „Ach, so hübsch hätte ich mir ein Gefängnis aber nicht vorgestellt.“ Da gab es einen großen, bepflanzten Springbrunnen in der geräumigen Lobby, schöne Bilder hingen an den Wänden, Wasserspender und Kaffeeautomaten gab es auch, eine sanfte, unaufdringliche Musik hallte durch den Raum. Endlich fand ich einen Rezeptionsstand mit üppigen Grünpflanzen und einer freundlichen Dame. Diese Dame fragte ich nach Achim K. Sie tippte den Namen in den Computer – mehrmals – und sagte dann: „Merkwürdig, ich finde Herrn K. nicht, wo sitzt der denn?“ Das wusste ich ja nicht, das sollte ja die Dame wissen. Sie tätigte noch mehrere Anrufe bei verschiedenen Stellen und sagte dann: „Sie müssen sich irren, der Herr K. arbeitet nicht bei uns.“ So langsam ahnte ich, dass ich hier falsch war. Als ich wieder rausging, sah ich, dass ich bei der Landesversicherungsanstalt gewesen war.
Das Gefängnis fand ich dennoch eine halbe Stunde später, dort war es nicht sehr hübsch. Nachdem ich alle Formulare ausgefüllt und unterschrieben hatte, sagte man mir, dass Achim verlegt worden sei.
Einen Monat später machten meine Freundin und ich eine Bootshausparty. Und wer trottete an, als die Party eh schon grad aus dem Ruder lief? Achim und Mitch! Achim erzählte, dass Mitch plötzlich im Knast aufgelaufen sei, 800 Mark auf den Tisch gelegt hätte – Achims Kaution –, und Mitch sei eh der allerbeste Freund, den Achim sich wünschen könnte! Die Party war so schlimm, dass ich nie wieder eine Bootshausparty machen durfte, aber das lag nicht an Achim und Mitch, sondern an meinen normalen Freunden.
Der Kontakt zu Achim und Mitch verlor sich dann so nach und nach – mein Interesse an netten Junkies beschränkte sich auf eine kurze, aber lustige Phase. Kürzlich aber erfuhr ich dann, dass Achim noch lebte und jetzt einer geregelten Arbeit nachgehe – doch wohl nicht bei der Landesversicherungsanstalt?
CORINNA STEGEMANN
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