Phantasma Kunst

Produktiver Vorschlag, dem substanziellen Kunstbegriff der Moderne einige Differenzierungen zu gönnen: Helmut Draxlers Analyse „Gefährliche Substanzen. Zum Verhältnis von Kritik und Kunst“

VON SASKIA DRAXLER

Politik, Wirtschaft und Kultur gehen im heutigen Wettbewerb um Standorte „auf neue Art Synthesen ein, vor denen die alten Gegensätze zwischen Avantgarde und Massenkultur oder zwischen Kunst und Kulturindustrie verblassen“. Wie lassen sich in der durch und durch kulturalisierten Ökonomie der Gegenwart Unterscheidungen treffen, die der Produktion von Kunst sowie ihrer öffentlichen Rezeption noch einen eigenen Sinn verleihen? Gibt es prinzipielle Zusammenhänge zwischen Kunst und Politik und ihrer Kritik als kulturelle Praxis? Solche Fragen führen bei Helmut Draxler nicht zu neuen Lösungsangeboten. Ausgehend von einer Revision „alter“ und „neuer“ Kunst- und Kritikbegriffe, schlägt er in seinem Buch ein Denken vor, das festgefahrene Polarisierungen sowie die pluralistische Relativierung sämtlicher Wertmaßstäbe gleichermaßen zurückweist und stattdessen für feinere Differenzierungen in und zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Feldern von Kunst und Politik eintritt, um sie „im Angesicht der langen Geschichte wechselseitiger Indienstnahmen und Verkennungen weiter produktiv denken zu können“.

Der Kunstbegriff, der bis heute wirksam ist, erhielt seine maßgebliche Prägung zu Beginn der Moderne. Während in vormodernen Zeiten von den verschiedenen Künsten als Fertigkeiten die Rede war, so nun nur noch von einer „Kunst“. Ein neuer substanziell aufgeladener Kunstbegriff setzt sich durch, der sich von allen früheren kategorial unterscheidet und fortan als Ideal künstlerischer Autonomie über allen Kriterien schwebt. Museum, Kunstgeschichte und philosophische Ästhetik sollen diesen Anspruch sicherstellen. Sie bestimmen die Ein- und Ausschlüsse und definieren, was Kunst ausmacht. Im vergeblichen Versuch, zu bestimmen, was die Substanz der Kunst sei, wird sie als reine Idee immer wieder bestätigt. Das Phantasma der Substanz der Kunst und das Netz der sich seit dem 18. Jahrhundert ausbreitenden bürgerlichen Institutionen ihrer Wertsicherstellung, Kunstgeschichte, Kunstkritik, Kunstbetrieb, bedingen sich gegenseitig.

Es ist der substanzialisierte Kunstbegriff, so Draxler, unter dessen Voraussetzung seit den 60er-Jahren eine „Entgrenzung“ der Kunst aus ihren tradierten Formen und Erscheinungsweisen stattfinden kann. Idealistische und antiidealistische Ansätze stützen sich dabei gleichermaßen auf ihn. Die Vertreter prozessualer, politischer Kontextkunst brauchen ihn im Zuge ihrer Abwehr der im 19. Jahrhundert zum Dogma erhobenen Autonomie des Kunstwerks genauso als Legitimationsgrundlage wie ihre Gegner. Duchamps Ready-Made und Beuys erweiterter Kunstbegriff wären ohne den stillschweigend übergeordneten Anspruch, den Kunst auf ein unauflösbares Substanzielles erhebt, nicht denkbar und bleiben ihm kategorial verhaftet. „Der neue Kunstbegriff, den Paul Valéry, Walter Benjamin und Joseph Beuys reklamierten, ist über zweihundert Jahre alt; er bedeutet, dass man heute nicht einfach Maler oder Bildhauer ist, sondern Künstler und auch als solcher malt, Bildwerke fertigt oder aber auch Videos installiert, fotografiert oder einfach nur nachdenkt.“ An Film und Fotografie, den „Künsten der Produktion“, die nach wie vor mal zur Kunst gerechnet werden, mal nicht, lässt sich die definitorische Grenzziehung zwar als kontingent erkennen, die Frage, ob Fotografie Kunst sei, ist aber aus dieser Perspektive „keine sinnvolle Frage; es liegt nicht an ihr“.

„Gefährliche Substanzen“ ist nicht gerade aufgebläht mit ausführlichen Beispielen. Manet, Duchamps, Beuys werden als Landmarks kunsthistorischer Paradigmenwechsel herangezogen, Andrea Fraser, Christoph Schlingensief und René Polesch als positive Beispiele für künstlerische Strategien, die Grenzen ihrer jeweilige Felder, also Performance, Bildende Kunst und Theater zu explorieren. Die knappe Exemplifizierung entspricht, um in Draxlers Terminologie zu bleiben, selbst einem „Wahrheitseffekt“. „Kunstwerke lassen sich nicht positiv bestimmen, sie hängen ab von imaginären Horizonten und Spielräumen des Möglichen.“ Wenn es nicht an den einzelnen Werken liegt, ob sie Kunst sind, sondern daran, wie sie in den gesellschaftlichen Verhältnissen erscheinen, kann man sie zugunsten des Auslotens dieser Verhältnisse womöglich vernachlässigen.

Helmut Draxler plädiert für die Inanspruchnahme des substanziellen Kunstbegriffs, nicht für seine Überwindung. Es ist gerade das Spannungsverhältnis zwischen Funktion und Substanz, in dem er die Chance zu interessanten Ansätzen sieht, das Spannungsverhältnis zwischen „den Künsten der Produktion“ Film und Fotografie, den angewandten Künsten Design, Architektur und den Neuen Medien einerseits und andererseits den Genres Malerei und Skulptur, die das Substanzielle bis heute am vehementesten beanspruchen. Worin die „Medialität“ der Neuen Medien eigentlich besteht, sei erst noch zu ergründen. Hierin sieht er die Chance zu einem künstlerischen Qualitätssprung ins Zeitgemäße. Wenn Draxler mit Pierre Bourdieu von „Feldern“ spricht statt von Disziplinen oder, in Anlehnung an psychoanalytisches Vokabular, von „Realitäts- und Wahrheitseffekten“ statt von theoretischen Gewissheiten, erfindet er das Denken nicht neu. Er bewegt sich damit aber im Horizont der Theorie einer „reflexiven Moderne“, die eine der wenigen für die 2000er-Jahre wegweisenden geisteswissenschaftlichen Anstöße darstellt.

Helmut Draxler: „Gefährliche Substanzen. Zum Verhältnis von Kritik und Kunst“. Reihe polypen, Berlin 2007, 223 Seiten, 22 €