Fußball-Kolumne: Die verrückten Ziegenanbeter

Über mexikanische Fußballkulte in Los Angeles und das Treiben der "Legion 1908".

Welches Ausmaß die Vorfreude auf Fußball annehmen kann, verstand ich so richtig erst, als mich Obi in seinen Garten führte, wenn man die kleine Fläche hinter dem Haus überhaupt so nennen konnte. Das magere Männchen unbestimmt mittleren Alters schlug dort die Plane zurück, die über einem Haufen von der Größe eines Kleinwagens lag, und grinste. Nach und nach erkannte ich, was er dort gelagert hatte: hunderte Rauchpetarden und bengalische Fackeln, säckeweise Kassenrollen und Konfetti. "Es soll noch mehr werden", erklärte Obi, und alles sollte zum Einsatz kommen, wenn die Mannschaft ihres Herzens aus Mexiko endlich wieder in Los Angeles spielte: Chivas Guadalajara.

In Obis Wohnzimmer zeigten er und seine Kumpels, die dort herumhingen und Corona tranken, wie es im Jahr zuvor gegen den FC Barcelona gewesen war. Tausende Kassenrollen flogen durch die Luft, und ihre Kurve im ausverkauften Coliseum von Los Angeles war komplett in Rauch gehüllt. "Das Ausgleichstor haben wir nicht gesehen", erzählte Obi zufrieden.

Sein Haus im Stadtteil Bell Gardens, wo neun von zehn Einwohnern Spanisch sprechen, sieht innen wie eine Vereinskneipe aus. An den Wänden hängen dutzende Schals in den rot-weißen Farben des Klubs und ein beleuchtetes Vereinsemblem. Obi ist zwar Klempner von Beruf, vor allem aber informeller Chef der "Legion 1908", wie alle Fanclubs von Chivas Gudalajara heißen. Die "Legion 1908" in Los Angeles ist die größte und aktivste in den USA. Sie hat schon Busse gechartert und ist zwanzig Stunden nach Chicago hin und zwanzig Stunden wieder zurück gefahren, um ein Freundschaftsspiel von Chivas zu sehen. Auch nach Houston haben sie einen Bus vollbekommen. Jeder hatte Feuerwerk für zweihundert Dollar dabei, das die Polizei vor dem Stadion allerdings konfiszierte.

Eigentlich heißt Chivas relativ schmucklos Club Deportivo Guadalajara und ist in Mexiko besonders populär, weil der Verein nur Mexikaner verpflichtet. Um mir zu erklären, wie es zum Namen Chivas (Die Ziegen) kam, ging Obi nach oben und holte ein Buch - das einzige in seinem Haus. Die Vereinsgeschichte von Chivas erzählt, dass Anfang der 30er Jahre ein Lokalreporter in Guadalajara geschrieben habe, der Club Deportivo würde "wie verrückte Ziegen" spielen. Allerdings sei der Journalist ein Fan von Atlas gewesen, dem verhassten Lokalrivalen, gegen dessen Spott sie sich dadurch wehrten, den Namen Chivas anzunehmen.

Dass es in Deutschland einen Fußballverein gibt, der sogar einen Geißbock im Vereinswappen hat, davon hatten sie noch nie gehört, und so scharte sich die "Legion 1908" von Los Angeles um den Computer und bestaunte andächtig das Wappen des 1. FC Köln. Dafür zeigten sie mir auf YouTube, wie imposant es aussieht, wenn die "Legion 1908" von Guadalajara zu Tausenden zum Spiel zieht und wie das Stadion bebt, wenn sie gegen Atlas antreten.

Manchmal fahren sie zu den Lokalderbys nach Mexiko, und man braucht wohl nicht extra zu erklären, dass es dabei nicht nur um Fußball geht, sondern auch um Heimatgefühle. Um diese Sehnsucht kommerziell zu nutzen, hat Chivas im letzten Jahr einen amerikanische Ableger gegründet. Chivas USA spielt seither in der Major League Soccer, im selben Stadion wie David Beckhams LA Galaxy. Die "Legion 1908" von LA kommt zu den meisten Spielen, bringt auch Konfetti mit und Obi hat sogar eine Blockfahne gemacht, die ihre Kurve im Home Depot Center komplett verhüllt.

Aber fühlt es sich auch so an, als wenn sie Chivas Guadalajara spielen sähen? Gelingt das auf der Welt bislang einzigartige Experiment, einen Klub dem Emigranten in die Fremde folgen zu lassen? Obi und seine Jungs schüttelten den Kopf und wirkten dabei fast ein wenig traurig. Vielleicht entbehrt man das Echte noch mehr, wenn man eine Kopie davon bekommt. Und alles unter der Plane wartete natürlich nur auf den Tag, wenn endlich wieder die richtigen Ziegen kommen.

Christoph Biermann, 46, liebt Fußball und schreibt darüber

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