Kolumne: Stickiger war Döblin nie
Dauerlesung von "Berlin Alexanderplatz" in den Rathauspassagen
Haben die nun Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" "verhunzt", wie ein Passant leicht angefressen kommentierte? Oder wird der Roman in dem gestern begonnenen 30-Tage-Lesemarathon "gerettet", wie Goethe es sagen würde? Wahrscheinlich wird von beidem etwas dabei sein - aber mit Tendenz zur "Rettung".
Klar, es war schon etwas gewöhnungsbedürftig, was gestern mit Döblin und seinem Franz Biberkopf passierte. So hatte man etwa das Gefühl, dass die Lesung in China stattfand. Die Veranstalter, die Berliner Lesebühne Texttouren, und der Organisator des Projekts, Peter Purrmann, haben die potthässlichen Rathauspassagen am Alexanderplatz als Ort für das Dauerlesen ausgesucht, dabei aber nicht berücksichtigt, dass der "Hongkong Express" in der Nähe der kleinen Bühne seine Garküche betreibt. So muffelte die erste Lesung nach Asia-Dämpfen. Vielleicht hat sich auch deshalb Nils Palm, der erste von insgesamt 15 Vortragenden der Alexanderplatz-Reihe, mehr als einmal verhaspelt.
Auch in Terminfragen haute es nicht ganz hin. Statt am 26. Juni, Döblins Todestag vor 50 Jahren, fing man jetzt am 14. August an. "Eher war es nicht zu schaffen gewesen", sagte Schriftsteller Purrmann. Mit den Rechten vom Verlagshaus Patmos habe es "echt gedauert". Und dass die je 45 Minuten lange Lesung um 13 Uhr und als "Repetition" um 17 Uhr abgeht - also ungünstig liegt - wirkt auch ungewöhnlich.
Seis drum, vergesst den Termin, reine Luft und wunderbar professionell Vortragende wie Christian Brückner oder Hanns Zischler sollte man trotzdem sagen. Purrmanns Alexanderplatz-Lesemarathon in den Rathauspassagen werden - wenn es so weitergeht wie gestern - ein Erlebnis. Denn authentischer, stickiger und schräger war Döblin in den letzten Jahren nie.
So hat Purrmann seine Vortragenden zusammengesucht, als sollten sie ein wenig wie Abkömmlinge des Biberkopf-Milieus daherkommen: ehemalige Obdachlose wie Purrmann selbst, Ex-Taxifahrer, frühere Bauarbeiter, IT-Ingenieure, aber auch Darsteller, Tänzer, Sprecher und "junge Wilde" wie die AutorInnen Ann Cotten und Katja Koschmieder und die Schauspielerin Michele Stieber.
Es wird auch nicht nur kunstvoll - oder mal mehr oder weniger dilettantisch - vorgelesen, sondern auch Alexanderplatz gespielt. Wechselt Döblin beispielsweise aus der Erzählung in den Dialog, wird der von mehreren Vorlesern quasi inszeniert. Am liebsten wäre es der Gruppe, wenn Zuhörer diese Passagen übernehmen könnten - quasi ein Alexanderplatz reloaded.
Dass es dazu in den kommenden 30 Tagen kommt, ist wahrscheinlich. Schon am gestrigen Auftakt war die übrigens kostenfreie Veranstaltung bis auf den letzten Platz besucht. Natürlich hauptsächlich von Nachfahren Franz Biberkopfs.
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