Brüssel zeigt der Türkei die gelbe Karte

EU-Fortschrittsbericht bemängelt für 2005 ein verlangsamtes Tempo der Reformen. Gute Noten für Balkanstaaten

BRÜSSEL taz ■ Von der „sanften Kraft der Transformation“, die politische Auflagen entfalten könnten, schwärmte Erweiterungskommissar Olli Rehn gestern in Brüssel. Es kann nicht das Beispiel Türkei gewesen sein, das ihn zu solch optimistischen Worten veranlasst hat. Denn im neuen Fortschrittsbericht wird das Wörtchen „jedoch“ wieder einmal ganz groß geschrieben. „Wichtige Gesetzesreformen sind in Kraft getreten und sollten zu strukturellen Veränderungen im Rechtswesen führen. Jedoch hat sich das Reformtempo 2005 verlangsamt und die Reformen werden nicht überall umgesetzt.“

In ihrer Erweiterungsstrategie stellt die Kommission mehr als bislang die Frage in den Vordergrund, ob und in welchem Tempo die EU weitere Beitritte verkraften kann. Unbestreitbar sei die Beitrittspolitik eines der stärksten Instrumente, um in einem Land Stabilität und Demokratie zu schaffen.

Die Berichte über die Balkanstaaten fallen sehr positiv aus. Als „Erfolgsgeschichte“ bezeichnete Rehn die Entwicklung in Mazedonien. „2001 war das Land an der Schwelle zum Bürgerkrieg. 2005 klopft es ernsthaft an die Tür der EU.“ Trotz „ernster Schwächen im Verwaltungssystem“ empfehle die Kommission, Mazedonien den Kandidatenstatus zuzuerkennen.

Auch das Kandidatenland Kroatien erhält gute Noten. Probleme gebe es beim Kampf gegen Korruption, im Justizwesen und beim Minderheitenschutz. „Serben und Roma sind Diskriminierungen ausgesetzt. Es muss mit Vorrang daran gearbeitet werden, dass ihre Beschäftigungsperspektiven besser werden und sie auf größere Akzeptanz in der Bevölkerung stoßen“, heißt es im Bericht.

Fünf Fragen sieht die Kommission in den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei als vorrangig an. Sie sollen innerhalb der nächsten ein bis zwei Jahre aus der Welt geschafft werden. Zum einen erwartet die Kommission, dass mit der Null-Toleranz gegenüber Folter Ernst gemacht wird. Zum Zweiten muss die Meinungsfreiheit gewährleistet sein. Dabei ging Rehn gestern indirekt auf die Anklage gegen den türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk ein. Drittens müssen nichtmuslimische religiöse Minderheiten alle Rechte erhalten. Die Gesetze über Frauenrechte, so das Gesetz zum Schutz der Familie, müssen umgesetzt werden. Schließlich müssen die Gewerkschaften das Recht erhalten, sich zu organisieren, zu streiken und Tarifverhandlungen zu führen.

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, der deutsche Europa-Abgeordnete Elmar Brok, bezeichnete die strengere Bewertung der politischen Fortschritte in der Türkei als „überfälligen Schritt in die richtige Richtung.“ Er plädierte dafür, interessierten Ländern eine europäische Perspektive unterhalb der EU-Mitgliedschaft zu eröffnen. DANIELA WEINGÄRTNER

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