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Biennale IstanbulIm Osten geht der Westen unter

Zwischen Stadtplanung und Globalisierungskritik, großen Ideen und profanem Scheitern: Die 10. Istanbul Biennale spekuliert über das Schicksal der Moderne.

Schauplatz der 10. Biennale: Istanbul Bild: dpa

Offenkundig ist es nicht folgenlos, dass die Istanbul Biennale nun schon eine 20-jährige Geschichte feiert. Vor zwei Jahren war die Lagerhalle am Hafen, in der noch die 8. Biennale stattgefunden hatte, von der Familie Eczacibaci für ihre Sammlung türkischer Gegenwartskunst zum "Istanbul Modern" umgebaut worden, das sich sofort als Besuchermagnet erwies. Dieses Jahr, anlässlich der 10. Istanbul Biennale, trumpft die Stadt nun mit einem weiteren neuen Ort für zeitgenössische Kunst auf, sozusagen der Istanbuler Version der Tate Modern. Wie in London generiert nun auch in der Stadt am Goldenen Horn ein Kraftwerk Kunst statt Strom. 70 Jahre lang hat das Silahtaraga-Kraftwerk die Stadt mit Elektrizität versorgt, bis es jetzt zum architektonisch markanten Kern von Santralistanbul wurde, einer weitläufigen Anlage für Kunst- und Kulturprojekte der Bilgi-Universität. Man darf also darauf gespannt sein, welches neue Projekt die 11. Biennale in zwei Jahren begleiten wird, denn die Stadt scheint das vorgelegte Tempo bei der Errichtung neuer Räume für die zeitgenössische Kunst beibehalten zu wollen.

Rasant findet Istanbul damit Anschluss an die aktuelle Entwicklung der internationalen Metropolen. Sie modernisieren samt und sonders nach der ökonomischen nun auch ihre kulturelle Infrastruktur. Nicht anders als in den anderen Weltstädten fällt auch in Istanbul auf, dass mit dieser kulturellen Erneuerung gerne die architektonischen und institutionellen Überlassenschaften der inzwischen unliebsamen - weil zu stark vom Staat und im weitesten Sinne von sozialistischen oder sozialdemokratischen Ideen bestimmten - Vorgängermodelle vernichtet werden. So ist in Istanbul ein Streit über den möglichen Abriss des Atatürk Kültür Merkezi (AKM) entbrannt, einem der Ausstellungsorte der diesjährigen Biennale. Der Ende der Siebzigerjahre fertiggestellte Veranstaltungsort für Opern- und Theateraufführungen, für Konzerte und andere Ereignisse der Hochkultur ist ein typisch modernistischer Betonbau. Seine komplizierte Planungs- und Baugeschichte reicht bis ins Jahr 1947 zurück.

Damals fasste man die Errichtung eines Opernhauses ins Auge, das die Anlagen um den Taksim-Platz ergänzen sollte, die seit den Zwanzigern entstanden waren, wie der öffentliche Park oder das Fußballstadion anstelle der alten Artilleriebaracken. Als das elegante Gebäude 30 Jahre später schließlich als Kulturzentrum zur Welt kam, stand es noch immer deutlich in der Tradition des republikanischen Projekts der Modernisierung, das sein Namensgeber Kemal Atatürk initiiert hatte.

Ob jene Rakete, als die der Minarettturm in Huang Yong Pings "Construction Site" erscheint, das AKM bedroht, ist eher fraglich. Vordergründig jedenfalls zielen weniger die religiösen als vielmehr die spekulativen Kräfte der Finanz- und Immobilienwirtschaft auf seinen Abriss. Trotz ihrer raumgreifenden Dimension wirbt die Baustelle des chinesischen Künstlers in der Weite des Antrepo No. 3, der in unmittelbarer Nachbarschaft zum Istanbul Modern gelegenen Lagerhalle am Hafen, eher leise, aber wirkungsvoll um die Aufmerksamkeit des Betrachters. Zunächst fällt nur die Spitze auf, die raketengleich über die Bauplanen hinausragt, die den größten Teil des schräg aufgebahrten Minaretts verbergen. Es stellt den Aluminiumnachguss eines der vier Minarette dar, die - neben acht Kalligrafien mit dem Namen Allahs und der Beseitigung des Kreuzes - genügten, um die Hagia Sofia, die 916 Jahre christliche Kirche war, für weitere 481 Jahre in eine Moschee zu verwandeln. Mit einigem Erstaunen wird man gewahr, mit welch geringen Mitteln, ohne weitere Zerstörung oder gar Abriss, einstmals der ideologische Transfer vonstatten ging.

Heute ist das undenkbar. Auch ein weiteres hervorragendes Beispiel moderner türkischer Architektur in Istanbul, der Istanbul Manifaturacilar Carsisi (IMC), ist vom Abriss bedroht. Als Dogan Tekeli und Sami Sisa den Textilmarkt in den späten Fünfzigern entwarfen, integrierten sie Strukturen des traditionellen Basars in die neue Architektur und schufen damit ganz bewusst eine Verbindung zwischen alter Stadt und moderner Urbanität. Als Beitrag in der Debatte um die Stadtentwicklung, dient die weitläufige Anlage ebenfalls als Ausstellungsort der Biennale. Wie im Fall des Atatürk Kültür Merkezi haben viele Künstler ihre Arbeiten auf den Ausstellungsort hin entwickelt.

Greifen sie im AKM gerne Fragen der Stadtplanung auf und erinnern an die gefährdeten, vielfach freilich schon verschwundenen baulichen Hinterlassenschaften der internationalen Nachkriegsmoderne, müht sich die Kunst in der "World Factory" des IMC an der aktuellen internationalen wirtschaftlichen Entwicklung ab.

Die Biennale-Teilnehmer sind allerdings sichtlich überfordert, dieser, unter dem Begriff Globalisierung subsumierten Phänomene, wie wachsender weltweiter Industrialisierung und Urbanisierung, zunehmender Gefährdung der Umwelt, steigender Zahl sozialer Konflikte, mit künstlerischen Mitteln Herr zu werden. Von wenigen Versuchen mit Kartografie, Computergrafik und -animation oder der interaktiven Installation "Play Ground: Crossword Puzzle" von Ferhat Özgür abgesehen, wird die "World Factory" im IMC von der Videodokumentation beherrscht, wie etwa der Langzeitbeobachtung "The Hill doesnt Chant Anymore".

Über zehn Jahre hinweg begleiteten Ege Berensel, Serhat H. Yalcinkaya und Banu Onrat eine Dorfgemeinschaft, die die Schließung der lokalen Goldmine fordert, die die Umwelt verseucht und damit die landwirtschaftliche Existenzgrundlage der Dorfes bedroht. Zwar überschreitet "The Hill doesnt Chant Anymore" mit seinem anhaltenden Interesse für die Bewohner von Inay die Grenzen des üblichen Dokumentarfilms. Dennoch überwindet das Video - wie die Mehrzahl der ausgestellten Arbeiten - nicht dessen Schwäche, über die Darstellung des Einzelfalls die Analyse der übergeordneten Strukturen und Aspekte aus dem Blick zu verlieren. Es bleibt Allan Sekula vorbehalten, dem Altmeister der fotografischen und filmischen Recherche in künstlerischer Absicht, die Weltpolitik ins Spiel zu bringen. In seinem 2006 fertiggestellten "Short Film for Laos" präsentiert er die kleine Erzählung vom laotischen Schmied vor dem Horizont der großen Erzählung von der Supermacht USA und ihren bösen Experimenten während des Kriegs in Indochina.

Ähnlich der Situation im IMC setzt auch das Ambiente des AKM der Kunst gewaltig zu. Nur wenige Arbeiten halten der modernistischen Pracht und dem minimalistischen Pathos des Gebäudes formal und inhaltlich stand. Nina Fischers und Maroan el Sanis Videobilder von der leer geräumten Bibliothèque Nationale in Paris wie ihre Versuchsanordnung "xoo-ex ovo omnia", die sie im 1965 von Oscar Niemayer entworfenen, aber erst 1980 fertiggestellten Pariser Hauptquartier der KPF aufnahmen, gehören zu ihnen. Markus Krottendorfers Fotoserie vom inzwischen abgerissenen Hotel Rossija in Moskau, die zwischen Dokumentation und Inszenierung oszilliert, gehört ebenfalls dazu, oder Daniel Fausts Fotoserie "UN/United Nations".

Die Verwandtschaft zwischen dem AKM und dem Gebäude der UN, dessen Interieur der amerikanische Künstler subtil inspizierte, ist schlagend. Unwillkürlich erinnert man sich, dass der marode Zustand des Gebäudes gerne für den Zustand der UN allgemein ausgegeben und damit ihre Abschaffung gefordert wird. Im AKM nun, vor Fausts Bildern, möchte man den Titel "Der Westen geht im Osten auf", den der erste taz-Bericht über die Istanbul Biennale trug - es war die vierte -, gerne in den Titel "Im Osten geht der Westen unter" abwandeln.

Dafür spricht auch die Situation im IMC, dessen kleine Textilläden heute nur noch die langen Mäntel anbieten, wie sie die frommen verschleierten Frauen tragen, die auf der linken Seite des Goldenen Horns inzwischen das Straßenbild beherrschen. Die aktuelle, allenthalben sichtbare und spürbare Modernisierung in Istanbul ist keine allein von oben, von den alten prowestlichen Eliten verordnete mehr. Dieser Prozess wird heute von Bevölkerungsschichten mitgetragen, deren Stimme in Betracht zu ziehen lange Zeit unnötig erschien. Heute, wo vier von fünf Einwohner Istanbuls Immigranten aus Anatolien sind, hat sich das geändert. Das Gesicht der Modernisierung ist kein rein westliches mehr, die Ideen abendländischer Aufklärung und Rationalität funktionieren nur im ökonomischen, nicht im politischen und kulturellen Raum.

Aber auch im Antrepo No. 3, der Lagerhalle, in der der Kurator der 10. Biennale, der international bekannte Ausstellungsmacher Hou Hanru, der Kunst wieder den Spielraum gibt, vor allem Kunst und nicht so sehr Politik- oder Wirtschaftswissenschaft zu sein, geht im Osten der Westen unter. Dieses Mal in der Vorherrschaft der Künstler aus dem nahen, mittleren und fernen Osten. Diese Dominanz ist unbedingt ein Vorzug der 10. Biennale, entdeckt man doch zwangsläufig viele unbekannte Namen und junge Talente. Als Berlinerin allerdings trifft man gleich mit der ersten Ausstellungsposition auf eine alte Bekannte. Hamra Abbas erster Versuch, die indische Miniaturmalerei in die dreidimensionale Plastik zu übertragen, war vor vier Jahren in einem temporären Kunstraum nahe der Spree zu bestaunen. Die "Lessons in Love" der Künstlerin, die inzwischen in Islamabad lebt und arbeitet, sind aber nicht nur eine Übersetzung von Malerei in Plastik, sie verbinden auch eine altehrwürdige Tradition der Darstellung des Sexualakts mit der heutigen Konsumkultur. Denn ganz bewusst verleiht Abbas ihren Liebespaaren eine glatte, glänzende Oberfläche, dank der sie - Jeff Koons lässt grüßen - wie billige überdimensionierte Spielzeugpuppen ausschauen.

Der Kunst tut ihre Gleichsetzung mit Spielzeug gut. Mit seinem Kreuzworträtsel für die Besucher des Textilmarkts konfrontiert Ferhat Özgür zu Recht die heute alles beherrschende Idee des Homo Faber mit Huizingas Idee des spielenden Menschen, des Homo ludens. Immerhin ist das Spiel bislang die beste aller Möglichkeiten, alternative Ideen von einem anderen, besseren Leben zu entwickeln und zu erproben. Um auch mal die Leichtigkeit des Seins zu beschwören, als notwenige Utopie angesichts der Beschwernisse des gewöhnlichen Alltags. Dann malen in Peng Hung-Chins Videoserie Hunde mit ihrer Zunge Zenweisheiten auf die Wand wie "Der große Tan hat keine Form" und äußern den interessanten Gedanken, sie fühlten Verwandtschaft mit ihren Hindu-Brüdern und -Schwestern.

10. Internationale Istanbul Biennale, bis 4. November, Katalog 35 YTL

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