Schul-Konzepte: "Lernen ist wie Sex"
Bei einem Kongress in Hamburg arbeiten Schulerneuerer an der Definition des neuen Lernens. Schweizer und Finnen machens vor. Ihr Konzept: Freiarbeit ja, Kuschelpädagogik nein.
HAMBURG taz Die drei Finninen stehen da und kichern. Das hilft ein bisschen gegen die Ernsthaftigkeit, die hier manchmal herrscht. "Die Deutschen nehmen das alles so ernst, die sind auch in der Schule hart gegen sich selbst", sagen sie.
Die haben leicht reden. Kommen als Lehrerinnen und Beraterinnen aus dem Land des ewigen Pisasiegers Finnland zum Bildungskongress in die Hansestadt. Und wollen schon Schluss machen. "Wir sind in Hamburg, wir wollen auf jeden Fall noch auf die Reeperbahn."
Das mit dem Ernst ist natürlich ungerecht. Denn in der Hochschule für Musik und Theater, malerisch an der Außenalster gelegen, haben sich alle, bloß nicht pädagogische Schwerstarbeiter oder Schulräte versammelt. Die Crème der deutschen Reformpädagogen ist da. "Erster Kongress der Schulerneuerer", heißt das. Gymnassiallehrer mit Dreadlocks sind zu bestaunen. Auf der Bühne tanzt ein Mann im weißen Nadelstreifenanzug Samba. Später stellt sich heraus, dass er ein Buch über Chaostheorie geschrieben hat und eines, in dem er über das Üben philosophiert.
Allerdings, man musste sich bewerben. Der Kongress der Bildungskongresse setzte ein Bewerbungsschreiben voraus. Man wurde ausgewählt, um Suchender zu sein. Objekt der Begierde: Das neue Lernen. Wie sieht sie eigentlich aus, die neue Schule?
Schulreformer können ernst sein, sehr ernst. Aber auch komisch: "Die Mädchen bringen ja gar keine Schultasche mit heutzutage, sondern ein Beauty Case, mit dem sie auf dem Klo verschwinden", erzählt eine Rektorin frisch von der Leber weg. "Da haben wir halt die Mädchentoilette umgebaut." Wir sind in der Arena "Räume & Reviere". Drei ArchitektInnen unterhalten sich mit dem spiritus rector des Kongresses, dem Filmemacher Reinhard Kahl. Der Raum als dritter Erzieher heißt das Thema. Und weil das Gespräch so plätschert, setzt sich die Frau dazu - ein Stuhl wird eigens für solche Interventionen immer freigehalten. Sie habe das Klo an ihrer Schule zu einem Lernort umbauen lassen, behauptet sie kess. "Jetzt gibt es hohe Spiegel und herzförmige Spiegel, und es ist ein richtig schön geworden."
Das provoziert die Architekten, die fantastische Schulhäuser entworfen haben, darunter das Salem College, eine der baulichen Preziosen deutscher Pennen. "Das Grundübel an den Schulbauten ist, dass der Bestand so hässlich ist", sagt Peter Hübner. Containerartige Gebilde, Plattenbauten aus den 70ern, kalte, abweisende Flure. So sind Schulen, jeder weiß es. "Dass das so aussieht, ist kein Wunder", erläutert Arno Lederer. Er verweist auf Bauvorschriften für Schulen, die genau festlegten, wieviel Quadratmeter pro Schüler es gebe. "Das ist wie Legehennenlernen." Aus der Debatte kristallisiert sich heraus: Die Klassenzimmer müssen eigentlich weg.
Deutschland sei, so lernen wir von Lederer, bei den Investitionen für neue Schulgebäude auf Platz 25 unter den OECD-Staaten. Das entspricht ziemlich genau dem Rang, den die Schüler beim Pisa-Vergleich der Leseleistungen erreicht habe. "Aber, psst ", ruft einer, "wir sind bei Reinhard Kahl, wir sollen positiv sein."
So ist es. "In das Gelingen verliebt", heißt einer der Wahlsprüche Reinhard Kahls. Er hat ihn adaptiert und zu neuem Leben erweckt. Kahl ist das ewige Gejammer über schlechte Schulen leid, deswegen zeigt er in seinen Filme Beispiele gelingenden Lernens. Und davon gibt es mehr als man denkt. Auch in Deutschland.
Der Kongress lauscht. 460 Teilnehmer verfolgen gebannt einer kleinen Sequenz, bei der eine Handvoll Zwei- und Dreijähriger am Eingang eines Bunkers im Wald liegen. Mit Schaufeln und Stöcken stochern sie durch das Gitter hindurch, das zum Schutz über die Höhle gelegt wurde. Sie beginnen zu rätseln, was darin sein mag. Ein Wolf, ein Schaf, ein Schlange? "Ich hör was", sagt einer der Steppkes. "Was denn", fragen die anderen atemlos. "Es klappert, das müssen Knochen sein." Dann beginnen sie eine Falle zu bauen. Sie heben ein Loch aus, legen Zweige darüber, leiten eine Pfütze um. "Der Wolf soll ersaufen, der Wolf soll ersaufen", singen sie. Und es gucken nicht nur die Forscher der Uni Köln zu, die hier das selbstgesteuerte Spielen und Lernen beobachten, sondern auch Reinhard Kahls Kamera.
Der Kongress lacht über den Wolfstanz. Aber die Leute sind auch fasziniert. Denn das war wieder eine dieser Kahl'schen Lektionen. Im Grunde ist Kahl ein Dieb, ein Plagiator. Kahl hat keine große Theorie, wie das neue Lernen oder die gute Schule aussehen soll. Kahl liefert Bilder, und es sind stets sehr einfache und doch sehr eindringliche, weil genaue Beobachtungen. Kahl schaut zu, etwa den Kindern der Hamburger Krippe Tornquiststraße, wie sie neugierig und kreativ sind. Sie brauchen, das ist offensichtlich, dabei keine Belehrungen. Und eine der Fragen, die sich aufdrängt, ist diese: Wie gelingt es eigentlich der Schule, aus diesen neugierigen Kindern, in wenigen Jahren Risikoschüler zu machen.
Immerhin, so sagen es die Daten der Studien wie Pisa, schneiden Deutschen als Zehnjährige bei den internationalen Tests noch famos ab - als 15-jährige aber sind sie nur noch unterdurchschnittlich. Verantwortlich gemacht wird hier der Trichter-und-Gleichschritt-Unterricht. Vorne eine Lehrer, der einer Gruppe von Schülern aus einem der Tausenden von Lehrplänen was einflösst. Allen gleichzeitig. Das geht nicht mehr, sagen sie hier. Aber wie geht es denn? Das kann verwirrend sein.
"Bringe mir nichts bei, erkläre mir nicht, erziehe mich nicht, motiviere mich nicht!" Was Peter Fratton als seine vier Urbitten bezeichnet, ist eine Ungeheuerlichkeit. Würde es ein Lehrer bei einem Elternabend als Prinzip nennen, er bekäme eine Dienstaufsichtsbeschwerde an den Hals. Bei den Schulerneuerern kann er das sagen. Fratton ist Gründer einer Schule, genauer vieler Schulen in der Schweiz. Er ist zugleich einer dieser verrückten Menschen, die Kahl eingeladen hat. Und einer, der seine Bilder verstehen hilft. Weil er eine Idee von Bildung hat. Sie lautet: Kinder müssen es selbst machen dürfen, sie müssen, wie Fratton es sagt, autonome Lernformen bekommen, in denen sie ihre Neugier ausleben können. Und sie müssen es "wohl haben in der Schule". Schule muss Spaß machen.
So denkt auch Jesper Juul. "Die meisten Erwachsenen wissen nicht, was Dialog ist", sagt der dänische Psychotherapeut und Autor. "Eltern zum Beispiel gehen oft wie Journalisten mit ihren Kindern um, sie interviewen sie ständig: Wie war die Schule? Was hat die Lehrerin gesagt? Und so weiter. Und dann wundern sie sich, dass sie irgendwann keine Antwort mehr bekommen. Oder nur noch Antworten und sonst nichts mehr." In Juuls Büchern geht es oft um Beziehungen. Seine These zur Erziehung lautet: Früher gab es Gehorsam, aber es geht heute darum, die Verantwortung zu übergeben. "Die Kinder können diese Verantwortung übernehmen, die schaffen das", sagt er, "nur gibt das den Eltern ein Gefühl von Arbeitslosigkeit."
So puzzelt sich das neue Lernen kommt Stück für Stück zusammen. Beim Kahl-Kongress aus Bildern und Kommentaren. Und in der Realität ja auch. Es ist noch nicht lange her, da lud die Stadt Bremen Migrantenkinder zu einem Sommercamp. Zwei Stunden Sprachtraining stand täglich auf dem Programm, drei Stunden Theaterspielen und viel Freizeit. Als die Wissenschaftler des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung eine Begleituntersuchung machten, kam heraus: Die Kinder hatten in drei Wochen ihre Sprachkompetenz um ein ganzes Schullernjahr erweitert. Mit stark individualisierten Sprachlernen, täglich Theater und Spaß. "In drei Wochen ein Jahr aufholen", fragt Kahl, "sind wir ehrlich. Hätte da nicht auch mancher von uns eher an ein pädagogisches Stalingrad gedacht als an Theater und Deutsch als Fremdsprache?"
Eines der Geheimrezepte der neuen Schule heißt: Freiarbeit. Da machen die Kinder selbst etwas, der Lehrer begleitet sie allenfalls. Das Arkanum des neuen Lernens. Auf dem Kongress gibt es eine eigene Arena dazu "Freiarbeit, Lernbüro & Co." heißt sie, bestückt mit den Gurus des stillen Arbeitens von der Hamburger Max-Brauer-Schule, der Montessori-Schule in Potsdam, der Bodenseeschule in Friedrichshafen und des Schweizer Beatenberg Instituts. Die Stunden stiller Freiarbeit der Schüler praktizieren sie mitunter - pro Tag. Als gegen Ende des Gesprächs ein Teilnehmer die Mindestanforderungen an Freiarbeit erfragen will, eine Definition, werden die Experten richtig fuchsig. "Es gebe ein Kochbuch in der Schweiz", blafft der Lehrer von Beatenberg, "da kochen jetzt alle danach. Aber bei der Freiarbeit geht das nicht. Das muss jede Schule für sich herausfinden." Auch die anderen verweigern sich standhaft einer simplen Definition. "Schauen Sie mal im Internet", wird ein Gymnasslallehrer beschieden, "da findet sich das alles." Schulreformer können hart sein, sehr hart. Mit Kuschelpädagogik hat das neue Lernen nichts mehr zu tun.
Nur die Finninen wissen, wie man gutes Lernen ganz einfach erklären kann. "Gutes Lernen ist wie Sex. Entweder es ist leidenschaftlich - oder es ist mechanisch und ohne Gefühl. Ja, das ist eine gute Definition."
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