Debatte Arbeitslosengeld I: Schröder liegt noch immer falsch

Die Agenda 2010 zeigt vor allem, wie Politik versagen kann. Auch ohne Hartz-Reformen wurden im Boom 2000 mehr Stellen geschaffen als diesmal.

Es ist schon bizarr: So mancher prominente Schröder-Fan scheint ernsthaft zu glauben, dass ausgerechnet die Agenda 2010 den derzeitigen Boom ausgelöst hat. Zu einer besonders krassen These verstieg sich Joschka Fischer; im Spiegel-Interview verteidigte er die gekürzten Sozialleistungen mit den Worten, Deutschland hätte "massiv gegenüber unseren wichtigsten Wettbewerbern verloren. Es musste etwas geschehen." Das klingt gewohnt apokalyptisch.

Man soll sich das offenbar so vorstellen: Die Hartz-Reformen haben die Exportnation Deutschland gerettet. Das ist Unsinn. Auf dem Weltmarkt hatte Deutschland damals keine Probleme, sondern war gerade dabei, zum Exportweltmeister aufzusteigen. Fischers Irrtum ist dennoch aufschlussreich - belegt er doch erneut, wie irrational Schröders Basta-Entscheidung für die Agenda 2010 getroffen wurde.

Während der Export florierte, litt die Binnennachfrage, und sie hat sich bis heute nicht wirklich erholt. Unverändert wartet der Einzelhandel auf Kunden. Das ist nicht verwunderlich, sind doch die Reallöhne in den letzten zwanzig Jahren kaum gestiegen. Die Agenda 2010 hat dieses Problem sogar noch verschärft: Die Hartz-Reformen, das beschreibt ja auch Katharina Koufen, haben die Löhne noch weiter gedrückt. Der Aufschwung hat nicht wegen, sondern trotz der Agenda 2010 stattgefunden.

Allerdings argumentiert nicht jeder Schröder-Fan so schlicht wie Fischer. Viele bauen ihre Argumentation geschickter auf: Sie behaupten nicht, dass die Agenda 2010 den Aufschwung ausgelöst habe - sie sagen nur, dass dank der Hartz-Reformen diesmal besonders viele Menschen vom Wachstum profitiert und Arbeit gefunden hätten.

Aber was heißt profitieren? Das kann man ernsthaft nur behaupten, wenn es sich nicht um irgendeinen windigen Mini-Job handelt oder um eine prekäre Ich-AG, die kaum zum Überleben reicht. Die Agenda 2010 muss sich an den regulären Jobs messen lassen, die sie angeblich geschaffen haben soll.

Zunächst die gute Nachricht für alle Schröder-Fans: Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist tatsächlich deutlich gestiegen. Im März 2006 gab es nur noch 25,937 Millionen reguläre Jobs. Das war der niedrigste Stand seit der Wiedervereinigung. Jetzt im September waren es immerhin schon 26,89 Millionen. In 18 Monaten sind also knapp eine Million echter Stellen entstanden.

Doch nun die schlechte Nachricht für die Schröder-Anhänger: In den allerersten Jahren der rot-grünen Koalition haben die regulären Jobs noch viel eindrucksvoller zugelegt, obwohl damals noch niemand wusste, dass der Kanzler Jahre später auf seine Hartz-Reformen verfallen würde. Im März 1999 gab es 27,164 Millionen sozialversicherungspflichtige Stellen; im September 2000 waren es dann 28,285 Millionen. Wie unschwer zu erkennen, bedeutet dies ein Plus von 1,1 Millionen regulärer Stellen - auf einem deutlich höheren Gesamtniveau.

Die Erklärung für diese frühen Erfolge der Schröder-Regierung ist banal: Jeder Boom schafft Arbeitsplätze. Eine Agenda 2010 braucht es dazu nicht. Schlimmer noch: Offenbar hat sie es nicht vermocht, den dauerhaften Trend zu stoppen, dass immer mehr reguläre Stellen verloren gehen. Stattdessen hat sich nur die prekäre Beschäftigung erhöht, bei denen der Arbeitslohn nicht zum Leben reicht. Es wäre zynisch, das als Fortschritt zu verkaufen.

Es ist Zeit, sich von der Agenda 2010 zu verabschieden. Viele Schröder-Fans finden das "populistisch". Damit wird unterstellt, dass das Volk dümmer als seine Politiker sei. Doch für diese Überheblichkeit besteht kein Anlass: Die Agenda 2010 zeigt, wie Politik versagen kann. Nicht nur bei der SPD schwenken daher viele um, sondern auch bei der CDU und den Grünen. Die Schröder-Fans müssen aufpassen, dass sie nicht als einzige Versager zurückbleiben.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.