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Soziale BewegungGewerkschaften kuscheln mit Attac

Nutzt der Schwung von Heiligendamm der Protestbewegung dauerhaft? Auf dem Sozialforum in Cottbus suchten Gewerkschaften, SPD und Die Linke die Nähe zu den Aktivisten wie nie zuvor.

Der Zaun von Heiligendamm ist längst abgebaut. Die Bewegung wird momöglich gerade aufgebaut. Bild: dpa

Besser als Katja Kipping konnte man das Dilemma des Großereignisses der sozialen Bewegungen nicht beschreiben: "Die Kunst des Protestierens zeigt sich dann, wenn der Protest abebbt", sagte die Bundestagsabgeordnete und Linke-Vizechefin auf dem zweiten bundesweiten Sozialforum. Genau diese Aufgabe musste das wichtigste Treffen der Bewegungsszene lösen, das am Sonntag in Cottbus zu Ende ging - schließlich lagen die G-8-Proteste gerade mal vier Monate zurück.

Deren Schwung dauerhaft für die Bewegung zu nutzen, war ein Ziel des Sozialforums. Am Ende war es beides: ein Erfolg und eine Enttäuschung. Letztere machte sich vor allem an Zahlen fest. Nur rund 1.500 Teilnehmer konnten die Veranstalter am Ende vermelden. Viele sind das nicht. Zum Vorgängertreffen in Erfurt im Sommer 2005 kamen an die 3.000. Ob es nun Cottbus Lage in Brandenburg nahe der polnischen Grenze war oder die Ermattung nach den kräftezehrenden G-8-Wochen - in vielen der rund 170 Workshops war eine Handvoll Aktivisten unter sich.

Allerdings zeigte sich auch: Die Inhalte der Mischung aus Friedensgruppen, Umweltinitiativen und Erwerbslosenforen sind gefragt wie selten. Die Gewerkschaften, die mit massiven Mitgliederverlusten kämpfen, kuscheln mit der Szene. Außerdem kann sie sich über Verstärkung aus dem Parlament freuen. Kipping und der SPD-Linke Otmar Schreiner sollten über Widersprüche und Gemeinsamkeiten zwischen Parteien und Bewegungen nachdenken. Schreiners Analyse der aktuellen Diskussion über längere Arbeitslosengeldzahlungen sorgte für gute Stimmung in der nicht mal halb vollen Stadthalle. "Die Montagsdemonstrationen gegen die Hartz-Reformen zeigen Wirkung - wenn auch zeitlich verschoben." Die Sozialproteste als Über-Ich Kurt Becks, das kam gut an.

Die Linke gilt vielen Aktivisten als Hoffnungsträgerin. Ein "Zusammenspiel" müsse es zwischen Parteien und Initiativen geben, sagte Kipping. Die Partei dürfe die Bewegung nicht dominieren, diese wiederum die Partei nicht "als Melkkuh" missbrauchen. Die Annäherung ist schwierig: Während Gewerkschaften als natürliche Partner begriffen werden, sind die Vorbehalte gegen Parteien weitaus größer. Die Neigung zu Satzung, Beschluss und geschlossenem Auftreten ist den Bewegungen suspekt. Dennoch könnten beide miteinander, sagte Kipping. Dies hätten die G-8-Wochen gezeigt.

Das Engagement der Gewerkschaften war unübersehbar. Sie stellten Dutzende Referenten, ein Verdi-Mann schmiss zusammen mit dem Attac-Aktivisten Hugo Braun das Presseteam, die DGB-Regionalchefin unterstützte vor Ort, Verdi-Boss Frank Bsirske setzte sich zu "Arbeitswelt und Menschenwürde" selbst auf das Podium. "Die Gewerkschaften sind selbst Teil der sozialen Bewegungen", sagte Hugo Braun von Attac. "Da gibt es keinerlei Distanz."

Prekäre Arbeitsverhältnisse, brutal steigende Leistungsanforderungen und Niedriglöhne brächten Menschen in Gefahr, ihre Würde zu verlieren, lautete Bsirskes Kernthese. Als Beispiel führte er eine bei einer Zeitarbeitsfirma angestellten Verkäuferin an, die im aktuellen Streik im Berliner Einzelhandel als Ersatz für Streikende arbeitete, für weniger als sechs Euro in der Stunde. Bsirske sagte: "Es geht um die zutiefst moralische Frage: Wohin soll sich diese Gesellschaft entwickeln?"

Simon Teune, der am Wissenschaftszentrum Berlin zu sozialen Bewegungen forscht, hielt das Forum trotz geringer Besucherzahlen für einen Erfolg: "Cottbus war ein Arbeitstreffen. Es ging um Diskussionen, um strategische Absprachen, um Vernetzung", sagte er. Und das schafften die Linken erstaunlich zivilisiert, wie Sozialdemokrat Schreiner überrascht feststellte. "Früher hätten wir uns doch schnell vorgeworfen, irgendwie rechts zu sein - und wären nach einer Stunde frustriert nach Hause gegangen."

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