Streitfall Gesundheitssystem: "Es gibt eine erste und zweite Klasse"

Wo bleibt die Solidarität im Gesundheitssystem? Darüber diskutieren Volker Leienbach vom Verband der privaten Krankenversicherungen und der Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach

Lauterbach: "Der Kränkste soll vom Chefarzt behandelt werden" Bild: dpa

taz: Herr Leienbach, Sie gehören zu denen, die Deutschland ruinieren. Das meint zumindest Karl Lauterbach, und er würde die private Krankenversicherung am liebsten abschaffen. Ist er einer Ihrer meistgehassten Gegner?

Volker Leienbach: Hass gehört nicht zu meinen Empfindungen, aber wir sind sicherlich Gegner in der Sache.

Und wie ist es umgekehrt, Herr Lauterbach? Volker Leienbach ist einer der erfolgreichsten Lobbyisten in Berlin. Er verhindert vieles von dem, was Ihrer Ansicht nach zu einem gerechteren Gesundheitssystem führen würde.

Karl Lauterbach: In der Tat, Herr Leienbach ist einer der Sieger der letzten Gesundheitsreform. Er hat maßgeblich dazu beigetragen, dass wir weiterhin eine medizinische Versorgung erster und zweiter Klasse haben.

Gibt es diese Zweiklassenmedizin zwischen den 90 Prozent gesetzlich und den 10 Prozent privat Versicherten, Herr Leienbach?

Leienbach: In unserer Gesellschaft gibt es in allen Lebensbereichen Unterschiede: beim Einkommen, der Bildung und eben auch im Gesundheitssystem. Aber diese Unterschiede lassen sich zum geringsten Teil auf den Versichertenstatus zurückführen. Wichtiger ist, dass die Menschen unterschiedliche Hintergründe und eine unterschiedliche Bildung haben.

Lauterbach: Das ist eine Binsenweisheit! Natürlich leben gebildete und einkommensstarke Menschen länger und kommen mit dem Gesundheitssystem besser klar. Dass diese Menschen aber auch noch besser versorgt werden, weil sie privat versichert sind, ist besonders ungerecht.

Gesetzlich Versicherte beklagen sich, dass sie auf einen Arzttermin länger warten müssen als privat Versicherte und zu manchen Spezialisten gar nicht vordringen. Manche Fachärzte geben auch zu, dass die späte Terminvergabe eine gezielte Methode sei, den Bestand an gesetzlich versicherten Patienten auszudünnen.

Leienbach: Das mag in Einzelfällen so sein, aber ich bestreite entschieden, dass gesetzlich Versicherte mit ernsthaften Erkrankungen nicht behandelt werden, weil privat Versicherte mit kleinen Leiden vorgezogen werden. Und können Sie den Ärzten vorwerfen, dass sie gesetzlich Versicherte erst im nächsten Quartal behandeln, weil sie im alten Quartal dafür nicht mehr bezahlt werden, weil das Budget aufgebraucht ist? Und warum ist das überhaupt ein Vorwurf an die private Krankenversicherung?

Lauterbach: Zunächst ist es ein Vorwurf an die Ärzte. Es ist unethisch, wenn ein Arzt seine Termine danach vergibt, wer das meiste zahlt. Und es ist auch ein Vorwurf an die PKV. Sie wollen den Ärzten doch mehr zahlen, damit dieses ungerechte System erhalten bleibt und Sie neue Kunden werben können.

Leienbach: Wo liegt denn die Ursache dafür? Es ist auch ungerecht, wenn Ärzten die Leistungen für die gesetzlich Versicherten nicht mehr vergütet werden, weil das Budget ausgeschöpft ist.

Lauterbach: Die Regierung hat das durch die Gesundheitsreform geändert: Ab dem Jahr 2009 sind die Budgets für die niedergelassenen Ärzte abgeschafft. Die Deckelung der Gesamtausgaben fällt weg.

Leienbach: Das ist doch Augenwischerei! Zwar soll das Budget 2009 abgelöst werden, aber die Politik betont in jeder Wortmeldung, dass es bei Obergrenzen bleiben wird. Das heißt, der Deckel bleibt. Nennen Sie mir einen einzigen Beruf, in dem Menschen arbeiten, ohne Geld dafür zu bekommen! So motiviert man die Ärzte nicht.

Die Ausgaben für die Ärzte können nicht ins Unermessliche steigen, deshalb wird eine Ausgabenbegrenzung bleiben. Verlangen Sie von den Ärzten, dass sie unbezahlt arbeiten, Herr Lauterbach?

Lauterbach: Das hört sich an, als würden die Ärzte nicht bezahlt. Das stimmt aber nicht. Der deutsche Arzt verdient im Vergleich zu Ärzten in anderen europäischen Ländern nicht schlechter, sondern besser. Das durchschnittliche Einkommen der Praxen nur durch gesetzlich Versicherte liegt im oberen Drittel im europäischen Bereich und ist in den letzten Jahren gestiegen.

Sehen Sie keinen Handlungsbedarf bei den Ärztehonoraren?

Lauterbach: Natürlich sehe ich den. Die Ärzte sollten ein einheitliches und von der Schwere der Fälle abhängiges Honorar pro Patient bekommen, egal ob privat oder gesetzlich versichert. In Euro, ohne Punktwert und ohne Abrechnung über die Kassenärztliche Vereinigung.

Leienbach: Ich bin gegen eine vom Staat festgesetzte, einheitliche Gebührenordnung. Denn da würden politische Überlegungen immer eine überragende Rolle spielen.

Warum verteidigen Sie dann die gesonderte Gebührenordnung für die Privatpatienten? Die wird doch auch vom Staat festgelegt.

Leienbach: Wir treten seit langem dafür ein, gemeinsam mit den Ärzten eine neue Gebührenordnung zu vereinbaren. Bisher ohne Erfolg bei der Politik. Und die Realität ist doch, dass Ärzte heute sagen, sie könnten ihren Praxisbetrieb nicht aufrechterhalten, wenn es die privat Versicherten nicht gäbe. Zudem gibt es in ebenso großem Ausmaß Unterschiede innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherungen. Ein Versicherter der Techniker Krankenkasse bekommt schneller einen Termin als einer von der AOK. Und solidarisch finanziert, wie immer behauptet wird, ist die gesetzliche Krankenversicherung auch nicht.

Was ist unsolidarisch an der gesetzlichen Krankenversicherung, Herr Leienbach?

Leienbach: Die gesetzliche Krankenversicherung bildet die unterschiedliche Leistungsfähigkeit ihrer Versicherten nicht ab. Wer mit seinem Gehalt über der Beitragsbemessungsgrenze von gut 3.500 Euro liegt, zahlt ja gar nicht diese 14 Prozent Beitrag vom Einkommen. Er zahlt nur den Höchstbetrag. Ist er auch noch Alleinverdiener, ist der Ehepartner kostenlos mitversichert. Und die Kinder auch. Kommt ein anderes Ehepaar gemeinsam auf das gleiche Einkommen, müssen sie zwei Höchstbeiträge zahlen. Das ist doch nicht gerecht!

Lauterbach: Ich selbst halte die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern in der gesetzlichen Versicherung für gerecht. Wer in Kinder investiert, verdient die Unterstützung des Solidarsystems. Außerdem: Weil es kleine Ungerechtigkeiten innerhalb der gesetzlichen Kassen gibt, ist die große Ungerechtigkeit - nämlich der Unterschied zwischen den privaten und den gesetzlich Versicherten - doch noch lange nicht gerechtfertigt. Der kleine Diebstahl macht den Raubüberfall nicht gerecht.

Lassen Sie uns noch einmal zur Verteilung der Leistungen kommen. Wie wirkt sich die unterschiedliche Behandlung von gesetzlich und privat Versicherten bei Schwerkranken aus?

Lauterbach: In Deutschland wird der größte Teil der Krebsbehandlung der Privatversicherten an den Universitätskliniken gemacht, und die kleineren Krankenhäuser behandeln die gesetzlich Versicherten. Dabei gibt es oft massive Qualitätsprobleme. Wenn sich ein sehr erfolgreicher Spezialist, der einen bestimmten Eingriff nur zweimal pro Woche machen kann, ausschließlich auf privat Versicherte konzentriert, stehen für gesetzlich Versicherte keine Operationstermine zur Verfügung. Skandinavien und die Niederlande haben unter anderem mehr Erfolg bei der Krebsbehandlung, weil dort die gesamte Bevölkerung Zugang zu den Spezialzentren hat.

Wie sollte die Terminvergabe eines Spezialisten dann aussehen?

Lauterbach: Wie in Skandinavien, den Niederlanden oder Frankreich. Es müsste für diese Spezialisten sehr hohe Honorare geben, die einheitlich sind für gesetzlich und privat Versicherte. Dann würde sich der Arzt danach richten, was die schwersten und damit für ihn interessantesten Fälle sind.

Leienbach: Das sind ja Illusionssysteme, die Sie hier vorstellen, Herr Lauterbach! Unterschiede gibt es in jedem Gesundheitssystem der Welt, und es wird sie immer geben. In Skandinavien, in den Niederlanden und in Frankreich gibt es doch auch diese Unterschiede. Es gibt Wartezeiten, es gibt Rationierungen, und es gibt Zusatzversicherungen, um bessere Leistungen zu erhalten. Es gibt kein einziges Gesundheitssystem auf der Welt, das keinen Privatmarkt kennt. Und vor allem dort, wo es ein staatliches Einheitssystem gibt, bildet sich ein Privatmarkt heraus.

Lauterbach: Jetzt müssen wir mal die Frage stellen, warum die PKV Ärzte für die gleiche Leistung überhaupt besser bezahlen kann. Das geht doch nur, weil Sie die wirklich teuren Fälle gar nicht erst aufnehmen. Weil Sie sich dem Solidarsystem entziehen.

Leienbach: Es gibt Risikozuschläge, und es gibt auch Ablehnungen bei den privaten Versicherungen. Das ist notwendig, weil die private Krankenversicherung anders als die gesetzliche nicht 90 Prozent der Bevölkerung versichert und sich die Risiken damit nicht von alleine ausgleichen. Aber innerhalb der privaten Krankenversicherung wird das Krankheitsrisiko von allen getragen. Außerdem ist die PKV ab 2009 dazu verpflichtet, einen Basistarif anzubieten, in den wir jeden aufnehmen müssen.

In der gesetzlichen Krankenversicherung gleicht sich das Risiko auch nicht von selbst aus. Und warum argumentieren Sie mit dem Basistarif? Den wollen die privaten Krankenkassen mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht kippen.

Leienbach: Ja, wir lehnen diese Ausgestaltung des Basistarifs ab. Er belastet die heute privat Versicherten über die Maßen und greift in deren Verträge rechtswidrig ein. Wir haben vor drei Jahren selbst einen Vorschlag für einen Basistarif gemacht, der aber von der Politik abgelehnt wurde. Aber bleiben wir beim Thema Solidarität: Da müssen wir auch über Generationensolidarität reden. In der gesetzlichen Krankenversicherung bekommen wir immer mehr Ältere mit höheren Leistungen und immer weniger Jüngere, die diese Leistungen finanzieren müssen. Ich weiß nicht, wie man das solidarisch nennen kann. In der privaten Krankenversicherung finanzieren die Versicherten über Alterungsrückstellungen die mit dem Alter steigenden Kosten selber vor und überantworten sie nicht der nächsten Generation. Das ist Solidarität.

Lauterbach: Sie nehmen Alte ja gar nicht auf. Es ist doch eine entscheidende Frage, wer die Arbeitslosen, die Armen, die Behinderten nimmt! All diese Gruppen sind bei Ihnen extrem unterrepräsentiert. Sie landen zu mehr als 90 Prozent in der gesetzlichen Krankenversicherung. Alleine 60 Prozent der Sozialhilfeempfänger und der Arbeitslosen sind in der AOK. Sie können doch nicht ernsthaft sagen, dass Ihr System überleben könnte, wenn es diese Gruppen übernehmen müsste. Aber weil das gesetzliche System in Zukunft immer weniger junge Leute zur Finanzierung und immer mehr Ältere hat, können wir uns die Rosinenpickerei durch die PKV nicht mehr leisten. Wir brauchen jetzt alle an Bord.

Leienbach: Privat Versicherte leisten schon heute einen überproportionalen Beitrag zur Finanzierung des Gesundheitssystems: Sie sind an dem wachsenden Steuerzuschuss zur gesetzlichen Krankenversicherung beteiligt, sie zahlen bei Ärzten und Krankenhäusern mehr als gesetzlich Versicherte. Und wieso soll es irgendein Problem der gesetzlichen Krankenversicherung lösen, die 10 Prozent privat Versicherten auch noch in ein untergehendes Boot zu holen.

Lauterbach: Es ist ja dann kein untergehendes Boot mehr! Wenn die 10 Prozent Einkommensstärksten, die fast 35 Prozent des Einkommens erzielen und 50 Prozent des Vermögens besitzen, ebenfalls in das Solidarsystem einzahlen, geht das Boot nicht unter.

Hätten die gesetzlichen Krankenkassen keine Probleme mehr, wenn die privat Versicherten zu ihnen wechseln würden, Herr Lauterbach?

Lauterbach: Es stimmt, dass wir ein großes Finanzierungsproblem in der Gesundheitsversorgung durch die demografische und die technologische Entwicklung bekommen werden. Ohne die Zweiklassenmedizin aus privater und gesetzlicher Krankenversicherung hätten wir aber eine gute Prognose. Um mit den Herausforderungen fertig zu werden, müssen wir zudem den Steueranteil im Gesundheitssystem erhöhen, wie es andere europäische Länder auch machen.

Leienbach: Halten Sie einen weiteren Ausbau des Umlagesystems zulasten unserer Kinder und Enkelkinder wirklich für solidarisch?

Lauterbach: Die These, dass die Jungen zu viel und die Alten zu wenig bezahlen, ist zwar populär, aber ich schließe mich ihr nicht an. Wir haben die Lasten der älteren Menschen beständig erhöht. Und wir müssen damit rechnen, dass künftig ein Drittel der älteren Menschen in Altersarmut lebt. Das sind genau die Menschen, die ein Leben lang in das Umlagesystem einbezahlt haben. Mehr Last für die Alten und Entlastung der Jungen ist nicht meine Devise.

Müssen die Alten mehr Lasten übernehmen, Herr Leienbach?

Leienbach: Nein, denn mehr Generationengerechtigkeit bedeutet doch nicht, dass ältere Menschen stärker belastet werden sollen. Es geht darum, dass bereits in jungen Jahren für die stärkere Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen im Alter vorgesorgt werden sollte. Und die Menschen wollen über ihre Versicherung selbst entscheiden. Wir haben 19 Millionen Versicherte in Zusatzversicherungen, da kann man nicht mehr von einem kleinen Teil reden. Es gibt ein großes Bedürfnis nach Unterschied, nach Individualität, nach einem Versicherungsschutz, der den eigenen Bedürfnissen entspricht.

Lauterbach: Sie sagen, es gibt ein Bedürfnis nach Unterschied. Das stimmt. Aber wenn der gesetzlich Versicherte vom Arzt nicht behandelt wird, weil der privat Versicherte mehr bezahlt, dann ist das kein Unterschied, den das Volk will. Dann ist das eine Ungerechtigkeit.

Leienbach: Herr Lauterbach, die Frage ist doch, wie die gesetzliche Krankenversicherung auf die Bevölkerungsalterung und den medizinisch-technischen Fortschritt reagieren will, um ihre Versicherten auch in Zukunft gut zu versorgen. Die PKV zu zerschlagen und die Versorgung der privat Versicherten schlechter zu machen, kann doch nicht die Antwort darauf sein. Und wir können das Paradies zwar versprechen, in dem jeder vom Chefarzt behandelt werden kann. Das können wir aber nicht bezahlen.

Lauterbach: Aber der Kränkste soll vom Chefarzt behandelt werden, nicht der Einkommensstärkste.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.