Ein Abschiedsfest für das Leben

St. Hildegard in Bochum ist eine Villa der letzten Tage. Der Tod gehört hier dazu wie Zärtlichkeit und gute Bratkartoffeln

„Manchmal bin ich nachts wach. Dann gibt es Streicheleinheiten. Besser als tausende von Dollar ist das“

AUS BOCHUM BARBARA RUPFLIN

Wer hier einzieht, weiß, dass nur wenig Zeit bleibt. Stunden, Tage, vielleicht ein paar Wochen. Die Bewohner sind schwerstkrank, medizinische Behandlungen haben keine Aussichten mehr auf Erfolg. „Austherapiert“ nennt sich das. Trotzdem wollen die Menschen leben. Jede Minute, jede Stunde. Das Bochumer Hospiz St. Hildegard ist ihnen ein Zuhause.

Auf den Fensterbänken der lichtdurchfluteten Gründerzeitvilla stehen Blumen. Statt nach Krankenhaus riecht es nach Kuchen und frischem Kaffee. In der Wohnküche hören Gäste, Angehörige und Pfleger zusammen Musik, sie kochen und essen gemeinsam. Im Wohnzimmer liegen Zeitschriften, im Regal stehen Spiele und Bücher und auf dem Schlafsofa können Gäste übernachten.

„Es ist wie ein zu groß geratener, chaotischer Haushalt“, sagt Katrin Gondermann. Seit zehn Jahren sorgt sie als Koordinatorin dafür, dass die Arbeit zwischen Pflegern, Seelsorgerinnen und ehrenamtlichen Helfern verteilt wird. Ihr Ziel ist es, Menschen bis in den Tod zu begleiten. Und für die Eltern, Kinder und Freunde des Sterbenden da zu sein. Auch nach dem Tod.

Anneliese Kemper ist 78 Jahre alt. Früher war sie 30 Jahre lang Schweißerin bei Bauknecht in Gevelsberg. Sie hat Darmkrebs im Endstadium. Seit zwölf Wochen wohnt Frau Kemper jetzt schon im Hospiz St. Hildegard. „Keinen Finger konnte sie heben, als sie herkam“, sagt Pflegerin Ulrike Kehr. Ihre Patientin war bettlägerig und litt unter starken Tumorschmerzen. Keiner glaubte, dass sie noch so lange leben würde. Auch sie selbst nicht.

Heute sitzt Anneliese Kemper im Rollstuhl und erzählt strahlend: „Manchmal bin ich nachts wach, wenn der Pfleger gucken kommt. Dann gib‘s Streicheleinheiten, so...“ und streicht sich über den Oberarm: „Besser als tausende von Dollar ist das.“ Ihr Neffe, der täglich zu Besuch kommt, nickt: „Unglaublich, was hier geleistet wird“.

Anneliese Kemper wollte nicht mehr leben, als sie nach fünf Monaten aus dem Krankenhaus kam. Sie schaut zu Boden mit Tränen in den Augen. „Man sagt viel, wenn man solche Schmerzen hat“, bringt sie mit erstickter Stimme hervor. „Da wollen wir jetzt gar nicht mehr dran denken“, sagt ihre Pflegerin, legt vorsichtig ihre Hand auf den Arm der Todkranken: „Jetzt genießen wir den Augenblick, nicht wahr?“ Frau Kemper nickt zaghaft: „Ja, Herr Schulenburg, der ist toll“ – und sie strahlt wieder. Über die Besuche des ehrenamtlichen Helfers freut sie sich. Und über die der ehemaligen Kolleginnen aus Gevelsberg. Und darüber, dass sie wieder die Bratkartoffeln essen kann, die sie so mag. „Und ein Bierchen bekomme ich auch dazu“, grinst sie. Die Magensonde braucht sie nicht mehr.

Dank der Schmerztherapie hat Frau Kemper auch keine Schmerzen. Ihr Zustand hat sich so gebessert, dass sie für einen Tag nach Hause konnte. Dorthin möchte sie auch wieder. Das ist ihre Hoffnung. Aber: „Man kann nicht mehr viel erwarten“. Eine Heilung gibt es nicht. Der Tumor wächst weiter. Sobald der Krebs ein lebenswichtiges Organ befällt, stirbt Anneliese Kemper.

Die Wünsche der Hospizgäste stehen im Vordergrund: Für die Frau, die nach zwei Tagen Hungern nichts anderes als Linseneintopf essen will, kocht die Hauswirtschafterin extra: „Wir können nicht bis nächste Woche warten.“ Auch größere Wünsche hat Katrin Gondermann schon in Erfüllung gehen lassen: „Peter war nur noch Haut und Knochen, er konnte jeden Moment sterben.“ Trotzdem ließ sie ihn die ersehnte Stereoanlage kaufen. In so einer Situation gibt es für sie kein Risiko: „Mehr als sterben kann er nicht.“ In der Nacht baute der diensthabende Pfleger die Anlage auf. Peter starb am nächsten Morgen. Eine CD hatte er noch hören können.

„Das ist nicht wie im Krankenhaus. Wir denken nicht an Spätfolgen.“ So bekommt ein todkranker Alkoholiker seine zwei Flaschen Korn am Tag über die Magensonde. Der quälende Entzug wird ihm erspart: „Die Kalorienzahl stimmt und zuhause hätte er nichts anderes getan“, sagt Katrin Gondermann. Spontanität brauchen sie und ihr Team. Etwa, wenn jemand mitten in der Nacht etwas Süßes will. „Da hilft nur die 24-Stunden-Tankstelle“ lacht die Pflegerin.

Trotz der Lebensfreude ist der Tod im Hospiz gegenwärtig. Jedes Jahr leben und sterben hier 200 Menschen, der Tod ist alltäglich. Wie sie damit umgeht? Pflegerin Kehr wird ernst: „Man entwickelt halt eine professionelle Distanz.“ Manchmal sei alles schwer auszuhalten, da sei es notwendig nach der Arbeit abzuschalten, „wie bei jedem anderen Job auch“. Anders als in anderen pflegerischen Berufen gibt es für die Mitarbeiter im Hospiz eine psychologische Betreuung. Die soll verhindern, dass jemand seine persönlichen Grenzen überschreitet, erklärt Katrin Gondermann: „Natürlich ist die Beziehung von Hospizgast und Mitarbeitern nie so intensiv, wie die von Angehörigen oder Freunden. Trotzdem ist da oft das Gefühl des Verlusts.“ Und um die Trauer verarbeiten zu können, müsse sie zugelassen werden.

Am Treppenaufgang neben der Marienstatue brennt eine kleine rote Kerze: jemand ist gestorben. Bis der Bestatter mit dem Sarg kommt, kann der Verstorbene noch einen Tag lang in seinem Zimmer bleiben. Selvi war 15 Jahre alt, als sie starb. Die ganze Verwandtschaft kam zum Kaffeetrinken ins Hospiz. Auch die Kinder. Selvi lag tot in ihrem Fußballtrikot vom VfL Bochum im Bett. Da hat ihr eines der Kinder einfach ein Spielzeugauto in die Hand gedrückt. Ganz selbstverständlich, weil Selvi dazu gehört. „Das ist Hospiz“, sagt Katrin Gondermann. Es gehe darum, den Tod zu enttabuisieren und zum Bestandteil des Lebens zu machen.

Auch deshalb kümmert sich Katrin Gondermann intensiv um Öffentlichkeitsarbeit. Das im Hospiz stattfindende Kunstfest ist mittlerweile eine feste Institution im Kulturbetrieb der Stadt. Eine von vielen Aktivitäten mit denen Katrin Gondermann verhindern will, dass aus dem Hospiz ein Ghetto wird.

Früher arbeitete die gelernte Krankenschwester auf einer Krebsstation im Krankenhaus. Schon damals kümmerte sie sich besonders um Sterbende. Aber für die Mediziner dort bedeutete jeder Sterbende eine Niederlage im Kampf gegen den Krebs. Das war für Katrin Gondermann schwer zu ertragen. Im Hospiz ist der Tod für sie keine Niederlage mehr: „Wenn jemand ohne Schmerzen in Frieden stirbt, ist das für uns ein Erfolg.“