Dany, bitte schreiben Sie

Moderne Frauen können mehr als Strümpfe stopfen. Was aber, wenn sie beim Hamburger Abendblatt reinschnuppern? Dany Ziemann erlebte einen Tag bei Springers großer Lokalzeitung

„Du“, sagt er zu ihr,und zählt auf, wen sie noch anrufen soll. Für die Kollegin ist er ein „Herr“ – also zu siezen.

von Dany Ziemann*

9.30 Uhr. Mein erster Arbeitstag beim Hamburger Abendblatt soll beginnen. „Kommen Sie so gegen 10 Uhr“, hatte mir mein neuer Chef gesagt, und dann etwas von Hausausweisen erzählt und einer Sekretärin, die mich abholen und einweisen wird. Knapp eine Minute später wird mir das verwehrt, beinahe. Der erste Wachmann an der äußeren Pforte des Axel-Springer-Hauses, Eingang Kaiser-Wilhelm-Straße, er will mich nicht einlassen. Er will meinen Hausausweis sehen. Aber den habe ich noch nicht. Da bin ich gerade erst angekommen, und schon habe ich das Gefühl, es vergeigt zu haben. Ich fühle mich schuldig. Gnädig winkt er mich schließlich durch. Mich, die Freie.

„Das Unternehmen Axel Springer wurde 1946 vom gleichnamigen Verleger gegründet und ist heute Deutschlands größter Zeitungsverlag“, habe ich mich auf der Springers Homepage informiert. 150 Zeitungen und Zeitschriften in verschiedenen Ländern gibt der Verlag heraus. Für eine davon will ich ab heute schreiben. Mein Ansinnen ist es nicht, Bomben einzuschleppen, nicht mal ein Klappmesser zum Apfel schälen. Trotzdem werde ich am Personal- und Besuchereingang gefilzt wie am Flughafen. Meine Tasche und ich müssen durch eine Sicherheitsschleuse. Der Empfang lässt sich meinen Namen und meine Daten geben, die in den Computer eingetragen werden. Ich weiß nicht, was sie damit machen, langfristig. In einer Diktatur wäre ich eine prima Mitläuferin. Ich hinterfrage nichts, ich will da nur rein. Die Frau am Empfang trägt einen straffen Haarknoten und telefoniert mit der Redaktion: „Sie werden gleich abgeholt.“ Ich bekomme einen Besucher-Aufkleber, sichtbar aufzupappen an der Brust, dann ist man fertig mit mir. Die Ledersessel in der Lobby sind schön und weich, ich sinke tief und fühle mich gleich wichtiger. Bis eine Dunkelhaarige an mich herantritt.

Um 9.45 Uhr bin ich zu einem Rädchen im Getriebe geworden, und der Grund ist der Hausausweis. Die Frau, die mich abgeholt und in die Redaktionsräume geführt hat, soll angeblich Sekretärin sein. Ich glaube das. Ich würde ihr allerdings auch ohne Zögern 50 Euro in die Hand drücken, wenn sie mich wegen eines Verkehrsdeliktes verwarnen würde. „Merken Sie sich diesen Weg.“ – „Holen Sie Ihren Hausausweis ab und kommen Sie sofort wieder zurück. Die Konferenz beginnt gleich.“ Wer klare Ansagen ohne den Anflug zeitraubender Freundlichkeit liebt, wird mit dieser Frau gut auskommen. Mein Hang zum Plaudern bleibt mir im Hals stecken. Statt zu reden, renne ich. Den Hausausweis gibt es 100 Meter entfernt im alten Springerhaus gegen Vorlage meines Personalausweises. Jetzt komme ich endlich alleine durch die gesicherten Schranken durch.

Gegen 10.15 Uhr warte ich im zweiten Stock des Axel-Springer-Hauses und verfolge eine wundersame Tafelrunde. Der Newsdesk beherrscht den Raum. Eine lange Reihe von Bürotischen mit schönen Flachbildschirmen darauf, auf einem Computer laufen die neuesten Agenturfotos ein. „Die Regionalzeitung ist die meistgelesene Tageszeitung in der Metropolregion Hamburg und eine der erfolgreichsten regionalen Abonnementzeitungen Deutschlands“, heißt es in der Eigenwerbung. Rund 273.000 verkaufte Auflage im ersten Halbjahr 2005 – beeindruckend.

Rund um die Nachrichtentische lassen sich die ersten Redakteure nieder: der Chef, seine Stellvertreter, der Sportschreiber. Die Männer sitzen. Auf leisen Flip-Flop-Sohlen kommen jetzt die Frauen der Redaktion hereingeschwebt. Zarte Sommerröcke postieren sich. Ein mädchenhaftes Wesen nach dem anderen lehnt an den Büroschränken. Sie setzen sich nicht. Warum nur setzen sie sich nicht? An Platzmangel kann es nicht liegen, es gibt noch eine Menge leerer Bürostühle. Eine hochschwangere Kollegin marschiert schließlich los und nimmt Platz. Schwangere haben Narrenfreiheit, jeder weiß das. Ich will es mir nicht versauen und unterdrücke ab sofort jeglichen Impuls, es mir bequem zu machen. Ich stehe still.

Die Männer sitzen und fragen Themenvorschlägen ab. Die Sommerröcke liefern Rapport: ein Porträt über den türkischen Gemüseverkäufer fände die eine hübsch, Blumenmeere am Straßenrand sind der anderen ganz besonders aufgefallen. Schülerinnen, die Texte aufsagen, denke ich. Aber auch ich sage mein Textchen auf, und vielleicht darf ich sogar schreiben, was ich gerade vorschlug. Der Chef, der mich vor einer Woche erst eingestellt hat, weiß leider meinen Namen nicht mehr, und mein Gesicht sagt ihm auch nichts. Ich versuche, ihm das nicht krumm zu nehmen. Wer täglich beruflich mit Menschen zu tun hat, verliert schon mal den Überblick. Journalisten, die eine gepflegte Gleichgültigkeit gegenüber Untergegebenen heraushängen lassen, begegnen mir nicht zum ersten Mal.

Es war ein aufregender Tag bis hierher. Ich bin behandelt worden wie eine verdächtige Person und wie ein kleines Mädchen, und das alles in nicht mehr als einer Stunde. Jetzt wird es langweiliger. Ich bekomme einen Platz zugewiesen und die Kollegin gegenüber erklärt mir noch, unter welcher Telefonnummer ich Wasserkisten bestellen kann. Das Redaktionssystem erklärt sie mir nicht. Sie habe keine Zeit dafür, sagt sie. Stimmt. Sie muss heute den Text über den Gemüsehändler recherchieren, faktenstarke 60 Zeilen. Und eine Espressomaschine reklamieren.

Gegen 15 Uhr ist mir mehr als nur öde. Niemand will, dass ich eine Aufgabe übernehme. Nicht mal Meldungen schreiben. Es herrscht das Gesetz des freien Marktwirtschaft: Die anderen freien Mitarbeiter tragen einen Bauchladen voller Geschichten vor sich her, die leitenden Redakteure pflücken sich heraus, was Erfolg verspricht. Ich bin eine Lohnschreiberin geworden. Der letzte menschliche Kontakt, der Interesse an mir zeigte, war ein Fotograf. „Hallo, ich bin seit heute freie Mitarbeiterin“, habe ich mich vorgestellt. „Das macht doch nichts“, erwidert er.

Am späten Nachmittag kommt dann noch mal Bewegung in die Sache, sie kommt in Form eines Redakteurs in Altherren-Beige. Schnellen Schritts betritt er unser Büro, in dem ich träumend durch die Glaskonstruktion der Axel-Springer-Passage starre. Aber er will nichts von mir, er will zur Kollegin gegenüber. Sie erhält Anweisungen für den letzten Feinschliff ihres 60-Zeilers. „Du“, sagt er zu ihr, und zählt auf, wen sie noch anrufen soll. Für die Kollegin ist er ein „Herr“ – also zu siezen. Jetzt kommen mir die 50er-Jahre-Filme mit Sonja Ziemann und Rudolf Prack geradezu modern vor. Damals wurden die Frauen zwar auch mit Vornamen angesprochen, aber wenigstens mit hanseatischem Sie: „Dany, bitte schreiben Sie“, sagte Prack im gleichnamigen Film zur Ziemann. Die lächelte so lieb wie meine Kollegin jetzt und tat, wie ihr befohlen.

18.30 Uhr. Ich stehe wieder auf der Kaiser-Wilhelm-Straße. Draußen ist ein Hamburger Sonnentag zu Ende gegangen. Drinnen wird weiter an einer der großen Regionalzeitungen Deutschlands gearbeitet. Im Jahr 2004 hat der gesamte Springer-Konzern einen Überschuss von 148 Millionen Euro erwirtschaftet, informiert der Geschäftsbericht. Die Mitarbeiterzahl ist jedoch seit 2001 kontinuierlich geschrumpft. Ich beschließe, zu diesem Gesundungsprozess beizutragen. Am nächsten Tag gebe ich meinen Ausweis zurück.

*der wahre Name ist der Redaktion natürlich bekannt