noch mehr bäume
: Kein Ah, kein Oh

Erstaunlich, wie leer der Ku’damm ist, donnerstags um Viertel vor elf. Hier müsste doch gekauft werden, dass die Schwarte kracht – bald ist Weihnachten, und die Mehrwertsteuer wird auch erhöht. Aber im Schatten der Gedächtniskirche geht es heute Vormittag fast beschaulich zu. Das liegt auch ein bisschen daran, dass eine Spur der Straße für den großen hydraulischen Kran gesperrt worden ist und für den Lastwagen, auf dem jetzt noch der Baum aus Oberwiesenthal ruht.

Bei dem Baum handelt es sich um eine Fichte, 20 Meter hoch, 33 Jahre alt. Sie wird den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz schmücken und ist so etwas wie der offizielle Berliner Weihnachtsbaum, warum auch immer, es gibt genügend andere. Allerdings pflegen die Hauptstadtmedien seit Jahren die Tradition, ein Scherbengericht über den Baum vom Breitscheidplatz zu halten. Gefällt er nicht – was oft genug vorkam ,– wird manchmal schon nach Stunden die Motorsäge angeworfen. Ein heikler Deal also für die Baumspender, meist ländliche Gemeinden, die sich auf diese Weise etwas Imagegewinn erhoffen.

Der Berliner Schaustellerverband, der den Weihnachtsmarkt veranstaltet, hat die Presse geladen, und die Presse ist gekommen. Das war’s dann aber schon – von den Passanten nimmt kaum jemand Notiz vom Großereignis. Keine Touristentrauben mit Foto-Handys, kein Aah und Ooh, als pünktlich zum Elf-Uhr-Glockenschlag der Kranführer beginnt, die Fichte in die Vertikale zu heben. Nur Dutzende Kameraleute und Fotografen suchen originelle Perspektiven, und Blitzlichter flackern auf, als Männer in Waldarbeitermontur den Stamm behutsam in das vorbereitete Loch im Boden einführen, um ihn dann mit armdicken Keilen zu stabilisieren.

Und – wie sieht er aus? Eigentlich ganz passabel. Dicht gewachsen, keine braunen Stellen, keine krumme Spitze. Geht in Ordnung. Schade um die Story. Am Fuße der Fichte posiert die Oberwiesenthaler Delegation. Erleichterte Gesichter, Händeschütteln, Schulterklopfen. Der Vorsitzende des Oberwiesenthaler Tourismus-Vereins, der zweifache Skisprung-Weltmeister Jens Weißflog, muss sich für die Fotografen unter den Baum stellen und minutenlang zärtlich in die Zweige greifen. Dankbar sind die Bildreporter auch dem Weihnachtsmanndarsteller vom Weihnachtsmanndarstellerverleih, der mit zwei weiblichen Engeln auf einem roten Mofa erschienen ist.

Vor der Baumaufrichtung hat Weißflog gesagt, er sei „so aufgeregt wie früher vor einem wichtigen Sprung“. Bessere O-Töne sind kaum aufzutreiben. Die kleine Valerie, das einzige Kind im Publikum, will auch auf dem Arm ihrer Mutter nichts in die Kamera sagen. Gut, dass Herr Heidemeier da ist. Herr Heidemeier aus Schöneberg ist eine Art Weihnachtsbaum-Aficionado, ein robuster älterer Mann, der in jedes Mikrofon und in jeden Block Sätze spricht wie „Soweit ich das beurteilen kann, gibt es keine Transportschäden“ oder „Ich kann Berlin zu diesem Baum nur beglückwünschen.“

Ortswechsel: Mitte, Schlossplatz. Vor dem kaputten Palast der Republik baut man den Jahresendrummel auf. Riesenrad und „Wilde Maus“ stehen schon, „Böttchers Schlittenfahrt“ wird gerade montiert. Dafür, dass heute auch hier ein Weihnachtsbaum aufgestellt wird, interessieren sich die Arbeiter genauso wenig wie die gänzlich ausgebliebenen Passanten. Selbst die Presse ist nur spärlich vertreten. Während der Baum in eine rostige Stahlröhre gesenkt wird, spielt ein Trompeter im Barockkostüm Jazz-Improvisationen auf „O Tannebaum“. Weihnachten kann so hässlich sein.

CLAUDIUS PRÖSSER