Als alle Dinge verschwanden

Ein nächtlicher Besuch bei einem Wittgenstein-Experten und die Folgen (Teil 1)

Leben heißt Abschiednehmen. Von der Post, vom Libero und dem gemütlichen Tschibo-Mann, von schönen Worten wie „Mahlzeit“ und „Solidarität“, von der Schallplatte oder von der Barzahlung. Dahin, perdu wie die D-Mark, die Stille, der Fassonschnitt und Turnschuhe, die man noch von Schuhkartons unterscheiden konnte. So weit, so gut.

Als jedoch Graubner, ein Wittgenstein-Exeget von Ruf und Berufung, das generelle Verschwinden der Dinge für morgen früh, Schlag sieben Uhr, prophezeite, erklärten wir ihn für komplett verrückt. Einzelne Dinge gehen kaputt, dozierte ich, Dinge gehen verloren, man könne sie ausmustern und verlegen, weshalb bestimmte Dinge nicht mehr auffindbar seien. So gehe das seit 3.000 Jahren. Aber verschwinden, im Sinne von sich in Luft auflösen respektive gar nicht mehr da sein, das könne ein frisches Pils, Kunststücke dieser Art lägen aber keineswegs in der Natur der statischen Dingwelt. Dinge, assistierte Binz, Dinge werde es immer geben, und bekam zum Lohn einen Schnaps von Wirt Aribert.

„So?“, fragte Graubner und lächelte schief. „Dann kommt mal mit.“ Wir zahlten unsere Deckel, schlugen die Mantelkragen hoch und stapften über die im Mondlicht glitzernde Pfützenlandschaft zwei Straßen weiter, hinauf in Graubners Wohnung. Es war schon weit nach Mitternacht, aber wir gingen gern mit. Man hatte schließlich noch Durst, war auch noch nie dort gewesen und ob Graubners dunkler Rede entsprechend fickrig auf das, was da kommen sollte.

Graubner schloß auf, knipste das Licht an und sagte leise: „Bitte sehr“. Wir traten ein und guckten ziemlich blöd aus der Wäsche. Die Mansarde war so gut wie leer. Das heißt, sie war weder spartanisch eingerichtet noch designermäßig entmasst, sondern tatsächlich leer und öd wie das Hirn von ZDF-Top-Reporter Peter Hahne. Kein Bett, kein Stuhl, kein Tisch, kein Fernseher, kein Kühlschrank, da war überhaupt kein einziges Stück Möbel. Es gab weder eine Kaffeemaschine noch Geschirr, keinen Aschenbecher, keinen Schlafsack, nicht mal eine Matratze. Auch Bücher suchte man vergebens. Nur in der Mitte des Zimmers dräute ein merkwürdiger, ungefähr anderthalb Meter hoher Quader, dessen Außenhaut schleimig, feucht und moosiggrün schimmerte. „Alles verschwunden“, sagte Graubner und ganterte traurig mit den dünnen Ärmchen. Das einzige, was ihm geblieben sei, wären dieser grüne Schleimblock, vier Flaschen Spätburgunder und drei Weinpokale, die er vor Jahren bei Ikea habe mitgehen lassen.

„Der hat sie nicht alle“, murmelt Binz. Graubner überhörte das souverän und drückte den Korken mithilfe des rechten Daumens in die Flasche. Der Most spritze bis zur Decke. Den Rest verteilte Graubner gerecht auf die schweren Gläser. „Der Korkenzieher hat sich gestern davon gemacht“, sagte er entschuldigend. Dazu fiel selbst Binz nichts mehr ein. Wir tranken stumm.

„Es begann mit den Eierbechern“, brach Graubner nach einer Weile das Schweigen. Eines Morgens seien sie unauffindbar gewesen. Er habe sich eigentlich nichts dabei gedacht oder vielmehr doch – und nun richtete er seinen Blick fest auf Binz –, er habe gedacht, was jeder denkt, dass die Dinge schon mal verloren gehen oder verlegt werden können. Aber dass Dinge einfach verschwinden im Sinne von sich in Luft auflösen, das sei ihm niemals in den Sinn gekommen. Seine Morgeneier, sagt Graubner, habe er übrigens drei Tage lang ohne Komplikationen gebraten und mit Genuss verspeist. Dann allerdings sei die Pfanne verschwunden. Auch diesen Verlust habe Graubner noch auf eine gewisse, ihm seit Kindesbeinen eigene Schusseligkeit schieben wollen, obwohl ihm klar war, das selbst Schwerstzerstreute gemeinhin keine Eisenpfannen mit sich herumtragen, um sie irgendwo zu vergessen. Als noch am Abend desselben Tages die Schwundliste gewachsen, ja recht eigentlich schon ins Hochbedenkliche gelappt war – vor seinen Augen hatten sich plötzlich ein Ohrensessel, das handsignierte Willie-Nelson-Poster samt seiner kostbaren Kronkorkensammlung entmaterialisiert – ahnte Graubner, hier müsse es sich entweder um besonders perfide Raubkriminalität oder um Phänomene handeln, die mit den ihm bekannten Gesetzmäßigkeiten des Universum nicht übereinzubringen waren.

Nach einer weiteren Woche sei seine gesamte Habe verschwunden gewesen. Stattdessen halte nun der grüne Schleimklotz die Mansarde besetzt. Graubner schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, wo das Ding herkam, nicht was es war, er hatte so etwas nie zuvor gesehen. Versuche, das Ding zu entfernen, seien allesamt an der Glitschigkeit und Masse des Kloben gescheitert. Es musste schwerer sein als Wolfram. MICHAEL QUASTHOFF

Fortsetzung morgen