PHILIPP MAUSSHARDT über KLATSCH
: Über die Ausgangslage

Wer seine alten Freunde eine Zeit lang aus den Augen verliert, kann böse Überraschungen erleben

Wenn ich auf den Zehenspitzen stehe und vom Wohnzimmer in den Hof hinunter luge, kann ich mein Auto stehen sehen. Jedenfalls stand es gestern noch dort. Unverbrannt, obwohl ich in einer Vorstadt wohne. Aber unsere Vorstädte seien ja auch nicht vergleichbar mit jenen Vorstädten, sagt der Allesversteher Daniel Cohn-Bendit in der taz.

Im Prinzip bin auch ich bereit, alles zu verstehen. Auch, dass man das Auto seines Nachbarn anzündet, wenn man unzufrieden ist, selbst wenn der Nachbar ebenfalls keinen Job hat.

Obwohl: So ganz richtig kapieren tu ich es nicht: „Clichy-sur-Bois“ klingt für mich eben immer noch mehr nach Entrecôte mit Sauce Bernaise als nach gegrillten Autoreifen. Fronkreisch, Fronkreisch?!

„Geben, hören, sagen, weg.“ Vier Worte, die fast immer am Anfang der Skatrunde fallen, die viel zu selten aber doch noch immer einmal im Monat stattfindet. Wir spielen mit Unterbrechungen Skat seit dreißig Jahren: A, T und ich.

A ist C4-Professor für Musik und reist viel herum. Ich bin auch nicht gerade häufig in meiner Vorstadt. Bei T ist es anders. T hat Zeit. T ist arbeitslos.

Zwischen einem „Grand mit vier“ und „Null Hand“ erzählt A dann, wie er letzte Woche in China Studenten unterrichtete und dass er übermorgen nach Südafrika fliegt.

A spendiert immer den Wein zum Skat. Sehr guten Wein. Der Gesamtwert aller Flaschen in seinem Weinkeller wird allgemein auf mindestens 30.000 Euro geschätzt.

T dagegen lebt von 650 Euro im Monat. T war Hartz-IV-Empfänger und hat dann eine Ich-AG gegründet für „Dienstleistungen aller Art“. Die Nachfrage für Dienstleistungen aller Art hält sich derzeit in Grenzen.

Als wir vor 30 Jahren zu spielen begannen, hatten wir alle zehn Mark Taschengeld pro Woche in der Tasche und ein Kreidler-Mofa unterm Hintern.

Unsere Ausgangslage war also ähnlich – bis A dann durchs Abitur fiel und uns sehr leid tat, wegen seiner verlorenen Zukunft. Ich glaube, wir haben ihn damals sogar einige Male absichtlich gewinnen lassen, damit er das Leben nicht so schwer nimmt.

In den Jahren danach verloren wir ihn eine Zeit lang aus den Augen, und dann war A plötzlich Solo-Musiker in einem großen Orchester und, kurz darauf, Professor an einer süddeutschen Universität. Der einzige ordentliche Universitäts-Professor Deutschlands ohne Abitur! Was haben wir beim Skat schon darüber gelacht.

T kommt auf dem Motorroller, A im Mercedes zum Skattermin. T hat, wie meistens, nach seinem Mittagsschlaf noch ein wenig im Garten gearbeitet, A kommt gestresst von einem Termin. A war im Urlaub Tauchen in Ägypten, T war Zelten am Bodensee.

Heute sind T und ich froh, wenn A uns gewinnen lässt, weil unsere Lage – aber mehr noch unser beider armseliger Weinkeller – ihn dauert. Alten Freunden nach vielen Jahren wieder zu begegnen kann so überraschend sein wie der „Dapp“ beim Skat: Man deckt ihn auf und erschrickt.

So hat ausgerechnet mein alter Freund P jetzt einen Studenten bestraft, der ein durchgestrichenes Hakenkreuz auf seinem Anorak trug. Wir hatten zwar nie Skat, aber doch Gitarre zusammen gespielt und die Welt verbessert, da trug P noch langes Haar und hätte einen solchen Sticker sicher auch angesteckt, wenn es ihn denn gegeben hätte. Nun ist P aber inzwischen leitender Oberstaatsanwalt und bestraft andere für seine nicht begangenen Jugendsünden.

Irgendwie geht alles oft ganz anders aus, als man denkt. Der französische Minister für Integration ist in einem Vorort von Lyon unter schlimmen Bedingungen aufgewachsen. Als Kind armer Einwanderer. Chancenlos, sozusagen

Kommenden Samstag ist wieder Skat-Tag. Die Gewinne des Abends wandern in eine Kasse für ein gemeinsames Essen in einem Sterne-Restaurant. Es fehlt nicht mehr viel, dann reicht es wieder für drei Menüs. A wird T mit dem Mercedes abholen. Und T wird noch immer nicht daran denken, den Wagen einfach abzufackeln.

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