„Israel schafft Tatsachen“

Heute vor einem Jahr starb Palästinenserführer Jassir Arafat. Seine Nachfolger haben versagt, sagt der palästinensische Arzt und Politiker Mustafa Barghuti. Verantwortlich sind die Politik Ariel Scharons und die Inkompetenz der Fatah

taz: Dr. Barghuti, Sie gehörten zu den schärfsten Kritikern Jassir Arafats. Hat sich die Lage der Palästinenser ein Jahr nach seinem Tod verbessert?

Mustafa Barghuti: Eigentlich nicht. Es gab große Hoffnungen, vor allem in den Wochen der Präsidentschaftswahl war die Atmosphäre so optimistisch. Die Leute dachten, dass mit den Wahlen eine neue Ära eingeleitet werden würde. Unglücklicherweise ist das nicht passiert.

Was ist schief gelaufen?

Es sind vor allem zwei Faktoren. Das eine ist die unveränderte israelische Politik, die den neuen palästinensischen Partner nicht anerkennt und noch nicht einmal Verhandlungen mit ihm zustimmt, obschon die Israelis zunächst erklärten, dass Arafat das Problem war, und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas ein guter Partner ist. Die Israelis schaffen weiter Tatsachen, bauen Siedlungen, Gaza wurde zu einem einzigen großen Gefängnis. Was dort passierte, ist kein Abzug, sondern eine Truppenverlegung. Dadurch verschlimmert sich die Wirtschaftslage dort weiter. Alle Zugänge sind blockiert. Aber das Schlimmste ist die Siedlungspolitik. 8.500 Siedler sind aus dem Gaza-Streifen abgezogen worden, gleichzeitig zogen 15.000 in das Westjordanland.

Also ist wieder nur Israel schuld?

Nicht nur. Die Regierung von Abu Masen ist daran gescheitert, ernsthafte Reformen durchzusetzen. Er hatte Sicherheit versprochen – die Sicherheitslage ist schlimmer denn je. Bis heute haben wir kein unabhängiges Rechtssystem. Die Sicherheitstruppen selbst sind verantwortlich für 90 Prozent der Sicherheitsverletzungen, das Budget wird nicht für die Bedürfnisse der Menschen genutzt.

Sie haben bei den Präsidentschaftswahlen vergangenen Januar gegen Abu Masen verloren. Was hätten Sie anders gemacht?

Viel. Als Erstes hätte ich sofort ein unabhängiges Rechtssystem geschaffen. Dazu braucht man nicht mehr als zwei Wochen. Die Leute sind da, das System ist da, was fehlt, ist der politische Wille. Es geht nicht an, dass die Fatah agiert, als gehöre ihr die Regierung. Als Zweites hätte ich die Sicherheitskräfte reformiert. Die Sicherheitschefs sollten keinen Einfluss nehmen, weder auf Wirtschaft noch auf Politik oder die Medien. Viele dieser Gruppen wurden zu Zentren des Machtkampfs innerhalb der Fatah und innerhalb der Regierung. Als Drittes hätte ich die Parlamentswahlen viel früher stattfinden lassen, vielleicht schon im vergangenen März, um eine Veränderung des Systems herbeizuführen. Es war klar, dass eine Person allein nicht allzu viel ausrichten würde.

Die Korruption ist das größte Problem der Palästinenser, und doch wird die Fatah gewählt. Wie erklären Sie dieses Wahlverhalten?

Nicht die Korruption ist das größte Problem, sondern die Inkompetenz der Fatah. Sie kontrolliert ein riesiges System der Ämterbesetzung, den Regierungsapparat. Das ist nicht einzigartig auf der Welt, aber wenn von 150.000 Beamten ein Drittel Polizeiuniform trägt, die alle zur Fatah gehören müssen, dann ist das problematisch. Dazu kommt, dass sie die Ressourcen kontrolliert. Ich hoffe sehr auf eine dritte politische Kraft. Innerhalb von vier bis fünf Jahren können wir dann mit entscheidenden Veränderungen innerhalb des politischen Systems rechnen.

Glauben Sie, dass der Tod Arafats Einfluss auf die Agenda Ariel Scharons hatte?

Nein, ich glaube, dass er einen sehr klaren Plan hat. Er macht, was er ohnehin wollte. Unilateralismus, Abzug aus dem Gaza-Streifen, Ablehnung internationaler Resolutionen, Ablehnung von Verhandlungen mit dem Ziel, die Zwei-Staaten-Lösung zu zerstören, stattdessen die Errichtung von Ghettos.

Die Hamas droht mit dem Ende des Waffenstillstands. Könnten die Palästinenser nicht mehr unternehmen, um Scharon das Leben zu erleichtern?

Es stimmt sicher, dass wir Fehler machen. Unser größter Fehler war die Militarisierung der Intifada. Aber wir lernen. Heute haben wir einen kompletten Waffenstillstand. Seit Februar kommen sämtliche Provokationen von israelischer Seite.

Ist die Teilnahme der Hamas an Parlamentswahlen sinnvoll?

Ich glaube, dass Wahlen sinnvoll sind, um mit der Hamas zu kooperieren. Natürlich muss klar sein, dass die demokratischen Regeln eingehalten werden. Ich möchte, dass sie mitmachen, und ich möchte sie bei den Wahlen besiegen.

Mit welchen Ergebnis rechnen Sie für Ihre Partei?

Wir arbeiten an einer unabhängigen Koalition und hoffen, dass wir genug Stimmen bekommen, um an dem Entscheidungsprozess teilhaben zu können. Weder Fatah noch Hamas werden eine Mehrheit stellen können. Unsere Sitze werden wahrscheinlich die entscheidenden sein.

INTERVIEW: SUSANNE KNAUL