DAS NEUE EU-CHEMIEKONTROLLRECHT WIRD VERBRAUCHER NICHT SCHÜTZEN
: Immer weiter ohne TÜV

Man stelle sich vor: 20 Jahre alte Autos dürften noch immer auf deutschen Straßen fahren, ohne je den TÜV gesehen zu haben. Undenkbar. Komisch nur, dass es für tausende Chemikalien, die seit ähnlich langer Zeit in Möbeln oder Kleidern verwendet werden, so etwas wie einen TÜV nicht gibt. Und sie werden auch künftig keinen vernünftigen Sicherheitscheck durchlaufen. Die Industrielobbyisten dürfen das Aufweichen der Europäischen Chemikalienkontrolle als neuen Erfolg verbuchen.

Der Vorgang zeigt, wie sehr sich die Wirtschaft durchsetzen kann – gegen die Interessen der Verbraucher. Viel zu lange schon haben die Bosse der chemischen Industrie Blankoschecks in der Hand: Sie können sämtliche Substanzen anmelden, ohne ihre Wirkungen zu untersuchen. Deshalb ist das Innenleben vieler Produkte erschreckend unbekannt. Für Mediziner indes ist längst klar: Für steigende Krebsraten und Allergien ist die tägliche Chemiedosis verantwortlich. Die teure Behandlung der vielen Chemiekranken werden Privatleute zahlen. Sie müssen dafür aufkommen, dass die EU-Chemiereform kein großer Wurf wird.

Die deutschen Politiker stehen lieber BASF oder Bayer stramm zur Seite, allen voran Angela Merkel. Paradox: Die deutsche Wirtschaft wäre am besten auf das neue Stoffrecht vorbereitet. Sie hat die Daten längst in der Schublade. Das ist einem Versprechen der Firmen zu verdanken, das ausgerechnet die jetzige Unionschefin in ihrer Zeit als Umweltministerin einforderte. Damals hatte es bei Hoechst in Frankfurt zwei Unfälle geben. Keiner ahnte, wie ätzend oder giftig der Chemiefilm war, der sich über die angrenzenden Wohnviertel legte. Die Wirtschaft sicherte zu, dass sie beim nächsten Knall besser Bescheid wisse. Nur festlegen lassen will sie sich nicht.

So bleibt vom kühn geplanten Chemierecht nicht viel mehr übrig als eine europäische Chemie-Behörde mit tausend Angestellten. Die Mitarbeiter können ausschwärmen und sich auf die Suche nach Giften machen. Allein: Das ist keine Chemiepolitik, sondern reine Beschäftigungspolitik.

HANNA GERSMANN