Kolumne Märchen: Vom Königreich in den Urwald
Warum es irgendwann nicht mehr ratsam war, mit Hubertus seltsame Spiele zu spielen.
Vor vielen, vielen Jahren, als Märchen noch die Wahrheit waren, da gab es einmal eine Schülerin, die als ausgemachte Streberin galt. Ihre Zeugnisse wiesen stets nur glatte Einser auf, Latein und Altgriechisch sprach sie schon in der Sexta fließend, und ihr Name war Theresia Katzenwade. Aber weil das nicht so schön klingt, wollen wir sie im Folgenden Corinna S. nennen.
Ihre Pausen verbrachte sie nicht auf dem Pausenhof mit den anderen Kindern, sondern in der Abstellkammer des Biologiesaals im Schulturm unter all den Gläsern mit eingelegten Teilen, ausgestopften Eulen und was es dort alles an spannenden Dingen gab.
So zogen die Jahre ins Land, Corinna S. war inzwischen in der Quarta und lebte die Zeit allein in ihrem kleinen und geheimen Königinnenreich. Doch eines Tages geschah es: Gerade als sie sich verstohlen wieder in den Turm schlich, musste sie eine entsetzliche Entdeckung machen - im Halbdunkel hockte eine Gestalt mit glühenden Augen und zotteligem Haar Der erste Schreck wandelte sich bald in einen gerechten Zorn, als Corinna S. gewahr wurde, dass es sich bei diesem Ungeheuer lediglich um Hubertus aus der Untertertia handelte, der keine Anstalten machte, ihr zu weichen. Gegenseitige Verwünschungen und Flüche fruchteten nicht, beide Kontrahenten beanspruchten den Platz für sich, und so beschloss man zähneknirschend, sich anzufreunden und auch die Nachmittage gemeinsam zu verbringen.
Hubertus lebte mit seinem Vater, einem Professor für osteuropäische Geschichte, in einem großen, alten Haus mit einem verwunschenen Garten, seine Mutter war tot. Er hatte ein Terrarium mit Fröschen und Eidechsen, besaß einen Chemiebaukasten und ein Mikroskop, so dass er und Corinna S. ihre Zeit mit wissenschaftlichen Untersuchungen verbringen konnten.
Nach einiger Zeit aber hatte Hubertus keine Lust mehr auf wissenschaftliche Untersuchungen, er wollte lieber etwas "Richtiges" spielen, und zwar "Pirat". Das kam Corinna S. seltsam vor, denn für so etwas waren sie eigentlich schon zu alt. Doch Hubertus hielt entgegen, zum Insektenfangen seien sie auch schon zu alt.
Das Piratenspiel kam nicht in Fahrt, es fehlte Corinna S. an Fantasie und Begabung, doch sie machte halbherzig mit, denn sie wollte Hubertus Gesellschaft nicht verlieren. Hubertus gab Befehle, Corinna S. führte sie aus. Dabei musste sie öfters die Rollen wechseln, mal war sie sein Steuermann, dann Besatzungsmitglied eines geenterten Schiffes, und sie kam sich dabei entsetzlich blöd vor. Einmal wollte Kapitän H. den Maat S. an einen Baum im Garten fesseln und auspeitschen, aber das wollte der Maat dann doch nicht so gerne. Corinna S. ahnte natürlich schon, dass das Piratenspiel eine gewisse sexuelle Komponente hatte, doch das war nicht der Grund für ihre Weigerung. Die Vorstellung jedoch, der Vater könne aus dem Fenster sehen und beobachten, wie Hubertus sie an den Baum fesselte und auspeitschte, ließen ihr die Haare zu Berge stehen. Sie machte also nicht mit.
Ein paar Tage später vertraute Hubertus ihr an, er träume öfters davon, "nackte Neger zu quälen", und er wollte mehr und mehr über schwüle Themen reden, doch Corinna S. konnte nicht mehr mithalten. Das, was ihn immer stärker aufwühlte, ließ sie noch kalt. Dort, wo bei ihm ein bunter Dschungel wucherte, fauchte und blühte, hatte sie ein leeres, plattes Brett. Der Kontakt verlor sich nach und nach.
Irgendwann war er einfach weg. Mitten im Schuljahr. Ohne Abschied, einfach so, und das Haus stand zum Verkauf. Sicher ist er mit seinem Vater Freibeuter geworden und führt nun auf einer märchenhaften Zauberinsel in der Karibik das Leben eines mächtigen Piratenkapitäns. Und wenn er nicht gestorben ist, dann lebt er so schön noch heute.
Fragen zur Sexualität? kolumne@taz.de Morgen: Dieter Baumann über das LAUFEN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!